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© Prestel-Verlag

Kunstgeschichte: Bilder, die jeder versteht

Von Prag bis Paris: Ein Großprojekt untersucht die Gotik als gesamteuropäisches Phänomen.

Wann beginnt die Gotik, wann endet sie? Wo hat sie ihre Spuren hinterlassen? Lässt sich, wie der Obertitel des ambitionierten Nachschlagewerks „Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland“ für seinen dritten Band suggeriert, eine Geschichte der Gotik überhaupt in staatlichen oder geografischen Grenzen erzählen?

Natürlich nicht. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, erst zum Ende der hier untersuchten Zeit zwischen 1250 und 1430 so genannt, erstreckte sich bis ins heutige Tschechien oder Polen – beides Gebiete, denen im jüngst erschienenen Band eigene Kapitel gewidmet werden. Der Herausgeber Bruno Klein, Professor an der TU Dresden, untersucht den medialen Wandel der Epoche, von der eigenständigen Architekturzeichnung bis zur Gutenberg’schen Buchdruck-Revolution. Der Wissenstransfer beschleunigt und vervielfacht sich. Die Gotik wird zu einem gesamteuropäischen Phänomen, das Nachahmung und Nachschöpfung in kurzen Zeitabständen kennt.

Gotik ist ein Wertbegriff. Von der Renaissance abfällig gebraucht, wird er in der Epoche der Romantik zum Lieblingswort nationaler Sehnsucht. Was wurde nicht alles in die deutsche – oder auch die französische oder englische – Gotik hineingeheimnisst! Doch die Rezeption eines Begriffs fällt mit dessen Gehalt nicht in eins. Insofern erstaunt zu lesen, die Geschichte der Kunst in Deutschland solle „in ihrer ganzen Vielfalt aus den Klauen einer fiktiven und kleinkarierten ,Geschichte der deutschen Kunst‘ befreit werden“.

Über eifersüchtigen Nationalismus ist die Wissenschaft längst hinaus. Und zum Glück hält sich der Herausgeber nicht an sein politisch korrektes Programm. Ihn fasziniert insbesondere das Prag Karls IV. aus dem Hause der Luxemburger, als sich mit dem aus Köln stammenden und mit dem an der dortigen Dombauhütte beherrschten neuen Medium der Architekturzeichnung vertrauten Peter Parler ein neuer Typus des Künstler-Architekten durchsetzt. Ähnliches gilt für das Straßburger Münster – eben jene gotische Kathedrale, die für Goethe den Inbegriff deutscher Baukunst bildete.

Dem Prag Karls IV. ist ein hymnischer Aufsatz Jírí Kuthans gewidmet. Das Programm des Kaisers, das böhmische Königtum wie das Kaiserreich in seiner Hauptstadt zu repräsentieren, tritt bei Kuthan emphatischer vor Augen, als es tatsächlich realisiert wurde. Welcher Tourist ahnt schon, dass Langhaus und Westfassade des Veitsdomes erst im 20. Jahrhundert vollendet wurden?

So schnell wurde eben doch nicht gebaut. In die Zeit der Gotik fällt die europäische Krise des mittleren 14. Jahrhunderts, die nicht allein von der Pest verursacht wurde. Bauvorhaben kommen zum Erliegen, in den Städten erobern niedere Stände wie die Handwerker die Macht. Gerade deshalb werden die Bildmedien immer wichtiger; sie mahnen etwa zur Fortführung stockender Vorhaben.

Andere Beiträge bleiben stärker der herkömmlichen Kunstgeschichtsschreibung verhaftet. Aber das hat seine Berechtigung, schließlich kam die Gotik aus Frankreich, wo sie erstaunlich schnell entwickelt wurde. Dass sie in deutschen Landen eine langlebigere Heimstatt fand als in ihrem Ursprungsland, gehört zu den Eigentümlichkeiten des europäischen Kulturtransfers. Der Kirchenbau nimmt wie zuvor in der Romanik die bei weitem dominierende Stellung ein, so dass auch Skulptur und Malerei durchweg sakralen Aufgaben dienen.

Der allmähliche Bedeutungszuwachs nichtsakraler Kunst zeigt sich eher in der Buchmalerei: Mit dem Aufkommen deutschsprachiger Literatur wächst auch das Bedürfnis paralleler Illustration. Die Buchmalerei bedient mit einem Mal zahlreiche Genres jenseits der herkömmlichen Bibeln und Psalter. Das Gutenberg-Zeitalter kündigt sich an – freilich um den Preis des Verlustes der herrlichen Miniaturmalerei zugunsten der groben Holzschnittpropaganda.

Bruno Klein (Hg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Bd. 3: Gotik. Prestel Verlag, München. 640 S., 600 Abb., 140 €.; brosch. bei dtv, 80 €.

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