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Maximilian Schmitt und Heiko Trinsinger in der Oper „Der Freischütz“ im Aalto-Theater Essen.

© Martin Kaufhold

Kunsttipps für Zuhause: „Der Freischütz“ aus Essen als Live-Mitschnitt

Erhellendes für die Couch: der Dirigent Tomas Netopil hat am Aalto-Musiktheater in Essen einen frischen Blick auf die Oper „Freischütz“ geworfen. Ein Hörgenuss.

Man kann das deutsche Stadttheater-System gar nicht oft genug loben. Als Erbe der Kleinstaaterei haben wir hierzulande eine Bühnen-Dichte, um die uns alle Welt beneidet. 

Es gibt allein 81 Standorte mit eigenen Opernensembles – das entspricht 50 Prozent des globalen Musiktheaterangebots. 9 300 Menschen sind in der Bundesrepublik als Solisten engagiert sowie in Chören und Orchestern, als sozial abgesicherte Künstler, die auch in Corona-Krisenzeiten weiterhin ihr Gehalt bekommen.

Die meisten Opernensembles findet man in den mittleren und kleinen Städten, manchmal sogar in 25 000-Einwohner-Nestern wie Neustrelitz, wo das Stadttheater der größte Arbeitgeber am Ort ist.

Und doch sagt die Größe der Gemeinde keineswegs etwas über die Qualität der Aufführungen aus. Oft sind sie in der so genannten Provinz sogar spannender als in den Metropolen. Denn dort arbeiten die Jungen, die Ehrgeizigen und Neugierigen, die etwas erreichen, bewegen wollen – nicht zuletzt den eigenen Aufstieg in die klassische Oberliga.

Der Boden der Tradtion

Absolut erhellend ist beispielsweise der frische Blick, den der Dirigent Tomas Netopil am Aalto-Musiktheater in Essen auf Carl Maria von Webers „Freischütz“ geworfen hat. Der Live-Mitschnitt beim CD-Label Oehms Classics macht nämlich klanglich klar, dass die deutsche „Nationaloper“ tatsächlich schon 199 Jahre alt ist.

Die meisten Maestri dirigieren die Oper erzromantisch – so, wie man es aus den Musikdramen Richard Wagners gewohnt ist, dem Weber ein wichtiges Vorbild war. 

Tomas Netopil dagegen will die Partitur nicht musikgeschichtlich vorwärts hören – Wagner nahm sein erstes Meisterwerk, den „Fliegenden Holländer“, erst 20 Jahre nach der „Freischütz“-Uraufführung in Angriff –, sondern rückwärts. Ihn interessiert der Boden der Tradition, auf dem sich Weber bewegte.

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„Singspiel“ ist der etwas unglückliche Gattungsbegriff für die Form von Musiktheater, mit der sich die deutschen Komponisten von der dominierenden italienischen Opera absetzen wollten, die Entwicklungslinie führt von Mozarts „Zauberflöte“ und Beethovens „Fidelio“ über den „Freischütz“ bis zu Lortzings „Zar und Zimmermann“ und Nicolais „Lustigen Weibern von Windsor“.

Leichte lyrische Stimmen

Tomas Netopil betont die biedermeierliche Atmosphäre der ländlichen Handlung, rüsten emotional nicht so mächtig auf wie gewohnt, wenn es dramatisch wird, sondern lässt die Essener Philharmoniker leicht und transparent klingen.

Das wiederum macht die Besetzung der Hauptrollen mit leichten, lyrischen Stimmen möglich. Jessica Muirheads Agathe klingt fast mädchenhafter als Tamara Banjesevics Ännchen, Maximilian Schmitt singt seinen Namensvetter mit hellem, beweglichen Tenor, und selbst der dem Teufel verfallenen Kaspar bleibt bei Heiko Trinsinger ein tollkühner Draufgänger.

Diese Oper war ein mutiges Experiment, die Klangfarben, mit denen Weber das Reich des Bösen ausmalte, 1821 wahrlich unerhört. Bei Aufführungen, die allein das Schauerromantische betonen, wirken die privaten und dörflichen Szenen darum oft altbacken. 

In der Essener Aufführung hingegen wird der „Freischütz“ als organische Einheit erlebbar, als eine Geschichte, die davon erzählt, dass jede Seele zwei Seiten hat: eine dunkle, aber eben auch eine helle.

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