zum Hauptinhalt

Kultur: Kuschels Fluchten

Im Clinch mit der Gegenwart: eine lange Döblin-Nacht und ein Preis für Michael Kumpfmüller

„Wenn Gott am siebten Tag keine Pause gemacht hätte, sähe es hier ganz anders aus.“ Diesen genial unsinnigen Satz sagt der verkrachte Inhaber einer Pool-Reinigungsfirma in Los Angeles. Damit formuliert er den Ausgangspunkt jeder Narration, bringt er die Fantasie ins Schwingen. Norbert Zähringer las beim 16. Alfred-Döblin-Preis im Literarischen Colloqium Berlin aus dem Manuskript „Das letzte Haus“. Es lässt den 1. September 1939 in Paris mit Gebeten „an einen fernen, überarbeiteten Gott“ beginnen, um dann zu dem Pool-Reiniger und Hollywood-Statisten Edison Frimm umzuschalten.

Der kauzige Chef gab ihm an seinem 16. Geburtstag nicht frei, so beklagt sich Eddy bei einem japanischen Rosengärtner. Der Gedanke an das Erdbeben vom 1. September 1923 in Japan lässt diesen wiederum erschaudern. Zähringer unternimmt einen Dreisprung zwischen Amerika, Asien und Europa, der in seiner Kühnheit an Döblins chinesischen Roman „Die drei Sprünge des Wang-Lun“ erinnert. Eddy wird nach Berlin gelangen und diese phantasiesprühende Koinzidenz von Geschichte in einen Roman münden, der beim Wettbewerb leider leer ausging.

Die Juroren Kerstin Hensel, Hinrich Schmidt-Henkel und Lothar Müller hatten von 454 Aspiranten auf den mit 15 000 Euro dotierten Preis außerdem Jenny Erpenbeck, Patricia Görg, Alban Nikolai Herbst, Michael Kumpfmüller und Bruno Preisendörfer in die engere Wahl genommen. „Verstehen Sie, wir brauchen den Lichtdom“ oder: „Holomorphe Rebellen zertrampeln die Rosen vor der Villa Hammerschmidt“: Solche exzentrischen Perlen liefert zuverlässig nur Alban Nikolai Herbst mit dem Mammutprojekt „Argo. Anderswelt“. Als SchmidtHenkel bemängelte, dass der gelesene Ausschnitt nicht die – von ihm ästhetisch geschätzte – Maßlosigkeit des Unterfangens verdeutliche, in dem das Berliner Regierungsviertel explodiert, antwortete der stets elegant gewandete Futurist: „Das habe ich diesmal weggelassen, denn sonst arten die Lesungen regelmäßig in Schreiereien aus.“

So wie die Herbst-Helden für sich das Blochsche „Gewaltrecht des Guten“ reklamieren, fragt sich der theoriebegabte Hafenarbeiter Rubber in Michael Kumpfmüllers entstehendem Roman „Nachricht an alle“: „Konnte man alles im Blick haben und dann noch Nein sagen?“ Mit einer auf dem alten Tonband überraschend hohen Stimme hatte sich Alfred Döblin bei der Eröffnung der Berliner Sezession 1931 als „oppositionell, wie ich bin“ bezeichnet. Er sei kein „Kuschelautor“ gewesen, erklärte Günter Grass beim Auftakt der sonntäglichen „Döblin-Nacht“ zum 50. Todestag des paradoxalen Klassikers in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Ob das auch auf Kumpfmüller zutrifft, der, im Gegensatz zu Patricia Görgs gegenwartshassendem Geizkragen „Meier mit Y“, nach eigener Aussage Windkraftanlagen und die deutsche Gegenwart liebt? Sein Roman gliedert sich in Ober- und Unterwelt: in die psychologische Innenschau eines Ministers, der als Angehöriger von einem Terroranschlag betroffen wird, und in die düstere Sphäre seiner Kontrahenten auf der untersten sozialen Skala.

Die „Chöre der Vernünftigen“, aus denen Kumpfmüller las, klingen jedoch verdächtig nach Stammtisch, nach jenem bequemen kleinsten Nenner, der schon das Sinnen und Trachten seines unglücklichen Titelhelden in „Hampels Fluchten“ (2000) bestimmt. Eine „anspruchsvolle Ermunterung“ soll der Döblin-Preis laut Günter Grass sein – so besteht also Hoffnung. Laudator Lothar Müller sieht den Autor „im Clinch mit der Gegenwart“, auf der Suche nach den „entzündeten Stellen“. Die Entscheidung für Kumpfmüller dürfte das in gemeinsamen Initiativen erprobte sozialdemokratische Einverständnis zwischen Preisstifter und -Träger noch weiter festigen. Als Favoritin galt auch Jenny Erpenbeck. Sie erzählt von der Begegnung eines jungen Rotarmisten mit einer im Schrank versteckten Deutschen 1945, bei der die Frau unerhörterweise die sexuelle Initiative übernimmt.

Zwei große Döblinsche Momente gab es am Pariser Platz, wo am Nachmittag der Preis verliehen worden war: Die bewegende Rede von Stephan Döblin, dem 1926 geborenen jüngsten Sohn des Schriftstellers. Er überreichte der Akademie einen Brief seines Vaters aus dem Jahr 1953, den der Parkinson-Kranke nur mit Hilfe eines an die Finger gebundenen Stiftes verfassen konnte. Er sei glücklich, dass sein „immer liebender Vater“, heute ungleich mehr Leser habe als zum Zeitpunkt seines einsamen Todes. Und Josef Winkler, Döblin-Preisträger 2001, verneigte sich mit einer rauschhaften Verkettung Kärntner Unglücksfälle im gelben Schein einer gar nicht harmlosen Wiesenschönheit vor Döblins Novelle „Die Ermordung einer Butterblume“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false