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Kultur: Lass uns rummeln gehen

Sie schreien für etwa vier Sekunden hört man die blanke Angst, die wie ein spitzer Pfeil den Stadtlärm durchstößt. Was auch immer die Leute bewegen mag, sich aus 70 Metern Höhe in die Tiefe zu stürzen, sie bereuen es spätestens, wenn ihr Gefährt ausgehakt wird und im freien Fall ins Bodenlose rast.

Sie schreien für etwa vier Sekunden hört man die blanke Angst, die wie ein spitzer Pfeil den Stadtlärm durchstößt. Was auch immer die Leute bewegen mag, sich aus 70 Metern Höhe in die Tiefe zu stürzen, sie bereuen es spätestens, wenn ihr Gefährt ausgehakt wird und im freien Fall ins Bodenlose rast. Ihre Panik sollte genügen, andere abzuschrecken, aber sie tut es nicht. Wenig später rauschen schon die Nächsten den Turm hinab, der als obszöner Phallus all die Unersättlichen und Erlebnishungrigen in Stockholms Vergnügungspark Gröna Lunds Tivoli zieht. Von der Spitze dieser Furchtsäule aus scheint man direkt in das Herz der schwedischen Hauptstadt zu fallen.

Das Herz der deutschen Hauptstadt ist ein leerer Platz, der Schlossplatz. Er ist so groß, freudlos und bedeutsam, dass er wie das klaffende Versagen wirkt, mit dem Erbe der deutschen Geschichte produktiv umzugehen. Vergnügen bereitet das niemandem. So bewegt Berlin immer wieder die Frage, wie das Vakuum zu füllen ist, das die Sprengung der Hohenzollern-Ruine hinterlassen hat. Ob die einstige Residenz der Preußenherrscher wieder aufgebaut werden soll, von dem sich karge Grundmauerreste unter einer meterdicken Asphaltdecke finden und ganze Gebirge des Baumaterials auf Deponien vermodern. Oder ob, wie Star-Architekt Axel Schultes fordert, an die Stelle der barocken Schloss-Kubatur ein aus mehreren Gebäudeteilen zusammengesetztes "urbanes Forum" entstehen sollte, das die historische Masse gewissermaßen nach Außen stülpt und einen von Arkaden umsäumten Platz erzeugt (vgl. Tagesspiegel vom 18. 1.). Beide Lösungen sind teuer, zu teuer, um von einer bankrotten Stadt finanziert zu werden. Aber sie sind auch nicht zwingend genug, um den Bund zu erwärmen - wie die bemühten Versuche zeigen, dem Bau über seine städtebauliche Schlüsselstellung hinaus eine sinnvolle Funktion zu geben.

Noch immer fehlt im Narbengelände der wiedervereinigten Stadt ein Ort, der aus der Freude über das nationale Zusammenwachsen hervorgegangen ist - ein Volkspark zum Beispiel. Monumente, die das mit der deutschen Einheit gewachsene politische Selbstbewusstsein symbolisieren, hat sich der Regierungssitz indes zur Genüge geleistet: Fosters Reichstagskuppel, die an die originale Wallot-Konzeption anschließt, das auffällige Kanzleramt, das dem provisorischen Bonner Flachbau eine Zement-"Sphinx" entgegensetzt, oder das Holocaust-Mahnmal, dessen gigantische Ausmaße viel von der moralischen Selbstgerechtigkeit des "guten", geläuterten Deutschland preisgeben.

Der Schlosstraum verlängert diese Reihe. Als Gegen-Palast zur DDR-Hinterlassenschaft angelegt (geschätze Kosten: 1 Milliarde Euro) treibt er den neu-deutschen Revisionismus weiter, indem er offen ein Zerstörungswerk rückgängig machen will, das die SED-Führung 1950 geschichtsblind vollendete. Wie "preußisch" dieses Ansinnen ist, zeigt schon, dass es vor allem repräsentative Zwecke erfüllen soll. Bis auf ein paar Berliner Museen, die sich auf ein Schattendasein in der Peripherie reduziert fühlen und zur Vervollständigung des Ensembles auf die Museumsinsel drängen, kommt ein Schloss niemandem zugute - am wenigsten denen, die mit Recht einigen Anspruch auf die Mitte der Mitte erheben könnten: die Berliner Bevölkerung. So plädieren die Architekten Ingenhoven, Overdiek und Partner für eine Planierung des Schloss / Palast-Areals, um aus dem Ganzen für 10-25 Millionen Euro "einen wunderschönen Park" zu machen. Nach einem Moratorium von 50 Jahren wisse man vielleicht, wie die Fläche noch sinnvoller zu nutzen wäre. Nur guten Gewissens würde man sich trauen, die Bäume wieder abzuholzen. In der Zwischenzeit "werden wir Feste dort feiern und Dichtern zuhören, Fußball spielen, prominieren oder einfach nur traurig sein, jeder wie er will".

Das Riesenrad als Riesenchance

Seit Jahren ist auf dem verwaisten Streitobjekt das BKA-Luftschloss ansässig, dessen "Nutzungserlaubnis" noch bis 2003 gültig ist. Von dem gescheiterten Versuch, in einem 1 Million Euro teuren Theaterzelt Kurt Weills "Venus"-Musical herauszubringen, zeugt nur noch eine Müllhalde. "Der Platz ist nicht gerade ein Publikumsmagnet", gibt Uwe Berger vom Luftschloss unumwunden zu. Dabei liegt nichts näher, als genau hier etwas entstehen zu lassen, dem sich die Berliner liebevoll verbunden fühlen könnten, weil es ihnen gehört - gemeint ist eine dem Kopenhagener Tivoli entlehnte Parkanlage, in der Hochkultur volkstümlichen Charakter gewinnt.

Als der Däne Georg Carstensen 1843 auf einer Wiese vor den Stadtmauern Kopenhagens das Tivoli eröffnete, hatte er König Christian VIII. mit dem Argument umworben: "Es wird nicht politisiert, wenn sich das Volk amüsiert." Seither hat sich vieles verändert. Die dänische Hauptstadt hat ihren Lustgarten, den Walt Disney sich später für seine Vergnügungswelten zum Vorbild nahm, umschlossen, heute liegt er in ihrem Zentrum. DasTivoli besticht durch den antiquierten Charme einer 150 Jahre alten Parkanlage, in der die besten Orchester Freiluftkonzerte geben, zwischen Teichen und Springbrunnen Feenpaläste und Karussels stehen und allabendlich ein Feuerwerk die Nachtschwärmer verabschiedet. Optische Veränderungen durch die Betreiber-Gesellschaft werden argwöhnisch von einer Schar alter Damen begutachtet, die als Rentnerinnen ein Anrecht auf Dauerkarten besitzen. Ein Anrecht übrigens, das allen 13 000 Kleinaktionären zusteht, die ihre Anteile von Generation zu Generation zu vererben pflegen.

An diese Tradition kann Berlin schlechterdings anschließen. Es müsste seine eigene stiften. Doch das Stichwort "Vergnügungspark" löst bei den Stadtoberen heftige Abwehrreflexe aus. "So wunderbar die Kopenhagener Anlage ist, sie entspricht nicht unserer Mentalität", heißt es aus Senator Strieders Bauverwaltung, die den Schlossplatz als "Foyer" zur historischen Berliner Mitte betrachtet und entsprechend würdig bebaut sehen will. Der Platz habe "Anspruch auf den großen Wurf", sagt Sprecherin Petra Reetz. Auch wenn sich dieser zurzeit nicht realisieren lasse und es "zunächst schlicht und ergreifend darum geht, das Gelände aufzuräumen".

Wer wollte es bestreiten? Vergnügungsparks sind lärmende Monster. Sie stehen für alles Billige, Flüchtige und Vulgäre - also das Gegenteil einer metropolitanen Hochkultur, die sich in gewichtigen architektonischen Entwürfen niederschlägt. Zudem scheinen Betrüger und Pleitiers wie der jüngst nach Peru geflohene Spreepark-Betreiber Norbert Witte den zwielichtigen Ruf, der dem Schaustellergewerbe anhaftet, aufs Bedenklichste zu bestätigen. Unvergessen auch wie die vor drei Jahren von dem windigen Freizeitpark-Initiator Thomas Frank in Spandau verfochtene Tivoli-Idee platzte: Zunächst wurden Behörden und Banken mit einem Tivoli-Lizenzvertrag und dem Versprechen geködert, etwa 2500 Arbeitsplätze auf dem 30 Hektar großen Gelände des ehemaligen Flugplatzes in Staaken zu schaffen, dann fehlte den hochtrabenden Plänen der finanzielle Rückhalt, und Frank tauchte unter. Solche Debakel könnten genügen, Berlin für Riesenrad und Rollschuhbahn unempfänglich zu machen. Aber es wäre schade. Müsste man denn soweit gehen, einen Vergnügungspark der Superlative aus dem Nichts zu stampfen? Warum die Gestaltung eines "Schloss-Parks" nicht durch Bürger-Anleihen finanzieren, die die Berliner als Miteigentümer beteiligt?

Elf Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Freude an der Einheit in beiden Stadthälften der Ernüchterung gewichen. Man will keinen faulen Zauber mehr. Trotzdem wächst in Berlin eine Offkultur mit Vergnügungsbedürfnissen zusammen, die ebenso frivol wie einfältig, ebenso furios wie peinlich sind. Die zahllosen Varietés, Kleintheater und Kabarett-Bühnen sind das Lebenselexier dieser Stadt, die sich gegen die Sesshaftwerdung ihrer Attraktionen sträubt. Ein Park oder Garten oder Prater oder Tivoli würde der Schaulust eine Bühne geben.

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