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Schwimmstudien. Die kanadische Autorin Leanne Shapton liebt „die Hydrodynamik der Körper, die Strömungen und Wirbel“. Foto: AFP

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Leanne Shapton: Wassergeister

Ewiger Wettkampf: Leanne Shaptons war einst Leistungsschwimmerin. Jetzt hat sie das Erinnerungsbuch „Bahnen ziehen“ geschrieben.

Am Ende ihres Buches „Bahnen ziehen“ stellt sich Leanne Shapton vor, dass die Liebe zum Schwimmen der Liebe zu einem Land gleichen könnte:  „Wie wir im Wagen meines Vaters auf dem Rücksitz durch Torontos ältere Viertel kurvten, um uns die Weihnachtsbeleuchtung anzusehen.“ Oder: „Der Parkplatz vor dem Schwimmbad des Gemeindezentrums um 4 Uhr 45, wenn sich der Eisregen anhört, als würde jemand mit einer Stahlbürste an die Wagentür kratzen.“

Es ist natürlich weniger Vaterlandsliebe, die die 1973 in Toronto geborene Autorin und Illustratorin mit diesen Sätzen zum Ausdruck bringt, sondern vielmehr beschwört sie hiermit eine verlorene Zeit: die Zeit ihrer Kindheit und Jugend, die sie sich in Form von Erinnerungen, von sinnlichen Eindrücken wieder zu vergegenwärtigen sucht. Das Schwimmen war in dieser Zeit ihr Lebensinhalt. Mit zwölf Jahren beginnt sie in ihrer Heimatstadt in einem Verein zu schwimmen, ein paar Monate später wird sie in eine Leistungsgruppe gesteckt. Es folgen 1988 die Olympia-Qualifikationsmeisterschaften, an denen sie teilnimmt (für Olympia reicht es aber nicht), 1989 ein erster Versuch, mit dem Schwimmen aufzuhören, dann ein weiterer Anlauf, in das kanadische Schwimmteam für die Olympischen Spiele 1992 zu kommen, was wieder nicht gelingt, wobei sie bei den Olympia-Qualifikationen viel schlechter abschneidet als vier Jahre zuvor.

Es sind prägende Jahre, in denen Leanne Shapton Leistungsschwimmerin ist, und so ist ihr Buch „Bahnen ziehen“ auch zweierlei: eine Geschichte über das Schwimmen an sich, über Wettkämpfe zum Beispiel, wie die Vorbereitungen dafür verlaufen, über das tägliche Training, über Schwimmhallen oder überhaupt über Neuerungen dieses Sports wie Hightech-Schwimmanzüge, geänderte Fehlstartregeln oder mit Sensoren versehene Startblöcke. Noch vielmehr aber ist „Bahnen ziehen“ eine Entwicklungsgeschichte, ein Erinnerungsbuch der zarteren Art, spielen hier doch auch viele andere Dinge eine wichtige Rolle: ein kariertes Buttondownhemd von Polo/Ralph Lauren zum Beispiel, das Shapton für teures Geld ersteht, weil alle ihre Schwimmkameraden solche Hemden tragen; die Donuts, die einer ihrer Trainer immer nach dem Samstagstraining mitbringt, „immer nur eine Seite, meistens Zucker- oder Schokoladenguss“; die Spiele mit dem zwei Jahre älteren Bruder; die Musik, die in den Schwimmhallen beim Training oder den Wettkämpfen läuft von Rod Stewart bis zu U2. Sehnsüchtig hört sie 1991 bei einem Trainingslager auf Barbados in einem Hotel nebenan Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ und denkt: „Das ist das Hotel, wo die normalen Menschen wohnen, normale Menschen, die nicht viel älter sind als wir. Sie hören Nirvana und gehen spät ins Bett und trinken Kool-Aid mit Wodka und essen Doritos.“

Leanne Shapton lebt in dieser Zeit ein nicht ganz so normales Leben. Sie unterwirft ihre Jugend dem Leistungssport: Sie trainiert sechs Stunden täglich, steht dafür manchmal schon um fünf Uhr morgens auf, sie ernährt sich demnach, sie nimmt manchmal die Stoppuhr mit ins Bett, um sich Wettkämpfe vorstellen zu können. Als sich dann 1992 der Traum von Olympia erledigt hat, schwimmt Shapton noch ein wenig weiter, „und zum ersten Mal in meiner Schwimmkarriere macht es mir während dieser kurzen Monate richtig Spaß.“

Und vorbei ist es dann auch da nicht, als Shapton Kunst zu studieren beginnt, das beweist dieses Buch. Das Schwimmen lässt sie nicht los, nicht zuletzt ist es das Einzige, das sie richtig gelernt hat, „vom Schwimmen weiß ich, wann ich die Zähne zusammenbeißen und wann ich mich ausruhen muss, wenn ich kurz vor der Abgabe stehe oder ein Projekt auf die Beine zu stellen versuche, finde ich Entsprechungen zu Technikübungen, Intervalltraining und Wettkampf.“

So mündet „Bahnen ziehen“ dann auch in eine Künstlerinnenbiografie, in der Shapton ihren künstlerischen Werdegang beschreibt und mit dem einstigen Leistungsschwimmen kurzschließt: „Ich ersetze die Bahnen durch Skizzen, und mein Teenager-Grauen vor dem Training wird ersetzt durch mein Erwachsenen-Grauen vor schlechter Arbeit“. 

Zudem zeigt sie 23 ihrer Bilder der Aussicht aus dem Hotel Therme Vals in einem Schweizer Bergort; es ist das Hotel mit Thermalbad, das Peter Zumthor entworfen hat. Oder es gibt in dem Buch Schwimmstudien und die Porträts ehemaliger Mitschwimmer, die Shapton gemalt und mit Erinnerungstexten versehen hat, oder Fotografien ihrer auf Büsten gezogenen Badeanzüge und Bikinis. Das erinnert an das Buch „Bedeutende Objekte und persönliche Besitztümer“, mit dem Shapton 2010 auch hierzulande einen kleinen Hype auslöste. Darin erzählte sie eine Liebesgeschichte in Form von über 300 Objekten einer Versteigerung.

„Bahnen ziehen“ steckt ebenfalls voller Dinge und fetischisierten Objekten, in Bild und Text. Als kongenial erweist sich Shaptons Erzählweise: nicht chronologisch, sondern zwischen den Zeiten hin- und herspringend (und immer im Präsens, was allerdings etwas unbeholfen und unelegant wirkt). Shapton erinnert sich der Vergangenheit, das aber ungeordnet. Und in der Gegenwart lernt sie, einfach nur zu baden: „James bringt mir das Konzept des Badens bei.“ Oder sie beginnt, sich mit der Architektur von Schwimmbädern zu beschäftigen.

In dieser Gegenwart hat sie natürlich auch ein besseres Reflexionsvermögen entwickelt. Zum Beispiel weiß sie genau um den Schmerz, den es stets zu überwinden galt und der beim Sport selbst am besten verschwand. Oder sie sinniert über die Kommunikation im Wasser, über die aphrodisierende Wirkung des Schwimmens, über das Zeiterleben innerhalb und außerhalb des Beckens oder über Verdichtungen der Zeit in einem Sportleben: „Die Olympischen Spiele werden oft als vier Jahre in zwei Wochen beschrieben.“

Auch die Katastrophe der Titanic oder Spielbergs Film „Der weiße Hai“ und überhaupt Hai-Kunstwerke bis hin zu Damien Hirsts Tigerhai in Formalaldehyd betrachtet sie aus dem Blickwinkel der Schwimmerin – und der Künstlerin. „Haiangriffe sind anthropomorphisierte Verbrechen aus Leidenschaft – oder sogar Symbol für Scheidung“ analysiert sie unter anderem, wobei man bei Schlussfolgerungen wie dieser ihr nicht immer folgen kann. Dass sie aber inzwischen bei jeder Berührung mit dem Wasser „unbewusst eine alte Narbe“ berührt und „die Geister vergangener Wettkämpfe“ entdeckt, nimmt man ihr sofort ab. Mit diesem feinen, mitunter proustisch anmutenden Erinnerungsbuch hat sie diese Geister gut unter Kontrolle gebracht.

Leanne Shapton: Bahnen ziehen. Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 328 Seiten, 18 €.

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