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Kultur: Leben nach Heraklit

Vom besonderen Witz des Ostfilms: Rumänien und Bulgarien auf dem Filmfestival Cottbus

Die Diagnose war gestellt: Im Osten geht die Kino-Sonne auf! Die letzten Jahre sahen lauter gute, sehr gute, großartige Filme im Wettbewerb des osteuropäischen Films von Cottbus. Sollte sich ein Kritiker, der nur gute Filme sieht, nicht nach einer neuen Tätigkeit umschauen? Und nun das: ein Jahrgang von so überdurchschnittlicher Durchschnittlichkeit, dass sich das eigene Zuschauergewissen fragte: Ja, was erwartest du eigentlich?

Das Außerordentliche, natürlich. Und das ist gut so. „Sutra Ujutru“ („Morgen in der Früh“) des serbischen Regisseurs Oleg Novkovic hat den Hauptpreis bekommen. Es geschieht fast nie, dass der beste Film einen Wettbewerb gewinnt – hier doch. An „Sutra Ujutru“ stellten sich alle Relationen wieder her. Er zieht mit unerbittlicher Gewalt hinein in eine Geschichte, die man eigentlich gar nicht sehen möchte. Weil schon die Gesichter befremden, ja fast abstoßen. Dieser Nele (Uliks Fehmiu), der nach zwölf Jahren in Kanada kurz nach Belgrad zurückkommt, um zu heiraten: einer von denen, die immer aussehen, als ob sie fettige Haare haben. Dicke, träge Unterlippe, kein harter Typ, aber weich auf ungute Art. Dieser Nele trifft nach zwölf Jahren seine alten Freunde, blickt in ihre vom Leben und anderen Giften verquollenen Gesichter. Kaum anzunehmen, dass die einmal jung waren. Nur die Frauen von damals sind immer noch schön, besonders die eine – nein, nicht die, die Nele heiraten will. Die alten Anziehungen sind noch da. Es wird ein Wiedersehensdelirium, voller Verlust- und Wiederfindensschmerz. Und einer der Freunde – der, den die Frauen am meisten liebten und die Männer auch, der hoffnungsvollste von allen, ist schon nicht mehr da.

Es sind die Erfahrungen meiner Generation, sagt Regisseur Oleg Novkovic, geboren 1968 in Belgrad. Die Handkamera – ohne einen Schwenk zu viel – filmt keine Räume, sie eröffnet Räume, zwischen Gesichtern, zwischen Körpern, zwischen Menschen und ihren viel zu grauen Häusern. Eine atemberaubende Intimität ist das. Hinter den lebensleeren Gesichtern ist ein leiser Humor, eine Zärtlichkeit, auch im Groben. Eigentlich ist nichts geschehen. Einer kommt zurück und geht wieder. Kann mehr geschehen?

Es ist das allgegenwärtige Thema dieses Jahres. Beinahe über Nacht ist es da: das große Weggehen. Wer etwas vorhat im Leben, geht oder ist schon weg. Meist geht er nach Amerika. In dem polnischen „Oda do Radosci“ („Ode an die Freude“) ist ein polnischer Bus unterwegs nach London. Die darin sitzen, reden nicht viel, sie kennen sich ja nicht – aber wir lernen sie kennen, zwei junge Männer und eine junge Frau, in drei Episoden – gedreht von drei jungen Regisseuren, geboren zwischen 1976 und 1981. Überall ist es besser als zu Hause – aber nirgends sonst ist zu Hause. Modern leben heißt heimatlos leben und es doch nicht können.

„Ode an die Freude“ war nicht der einzige Episodenfilm. Fragmentiertes Leben, fragmentierte Filme. Möglich auch: sechs kurze Filme ergeben einen langen – wie in dem ärgerlichen, weil unbeholfen symbollastigen bulgarischen „Obarnata Elcha“ („Christmas tree upside down“). Und in einen dieser Sechstel-Filme passte sogar noch die komplette Verfilmung des Todes des Sokrates – schierlingsbecherwürdig in seiner Einfalt.

Die Präsenz der alten Philosophen im Ostkino fällt auf – besonders in dem der beiden Fokus-Länder Bulgarien und Rumänien. Heraklit ist der Gewährsmann des rumänischen „A Fost Sau N-A Fost?“ („East of Bucharest“). Der Film von Corneliu Porumboiu gewann dieses Jahr schon in Cannes die Goldene Kamera-Palme. Dabei ist Marius Pandurus Kamera denkbar unspektakulär bis vorsätzlich dilettantisch. Die Mitte von „East of Bucharest“ bildet ein geniestreichartiger, fast zwanzigminütiger Nonstop-Take einer rumänischen Provinz-Fernsehshow. Jawohl, auch die letzte rumänische Provinzstadt hat noch einen eigenen Fernsehsender. Es ist eher ein Ein-Mann-Sender, aber was besagt das schon? Am 22. Dezember um 12 Uhr mittags floh das Diktatoren-Ehepaar Ceausescu einst aus Bukarest. Die Fernsehshow des Intendanten und bekanntesten (weil einzigen) Moderators des Senders behandelt am 22. Dezember sechzehn Jahre später die Frage, ob das eine Revolution war „damals hier bei uns“. Tatsächlich sind ein paar Bürger irgendwann auf dem Marktplatz des Nestes erschienen. Aber was machten sie da? Und kamen sie vor 12 Uhr oder später? Heraklit hat gesagt, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, beginnt mit großer Geste der Showmaster und findet schon aus seinem Eröffnungssatz nicht mehr heraus. Die Studiogäste sind die bravsten Bürger, ein kleinlauter, trinkender Professor und ein misslauniger Zeitzeugen-Greis. Keine Klamotte, sondern ein wunderbar aberwitziges Stück Kino über das Gestern und Heute in der rumänischen Provinz. Die Revolution von 1989 ist historisch geworden, auch der zweite rumänische Wettbewerbsbeitrag von Radu Muntean hat sie zum Thema und im Abspann hören wir den Gefangenenchor aus „Nabucco“, gesungen von Nana Mouskouri. Das ist der Witz des osteuropäischen Kinos in seinen schönsten Momenten.

In den letzten Jahren wurde Cottbus Zeuge der Erfindung ganz neuer Kino-Genres: der ungarische Opernfilm im Krankenhausserienformat. Diesmal wurde in Cottbus nichts erfunden, aber Györgi Palfi, der Schöpfer des ultimativen Dorffilms („Hukkle!“), war wieder da. Man hat geahnt, dass diese Neuentdeckung der Welt durch den mikroskopisch-bösen Kinoblick nicht einfach fortsetzbar ist. Palfis „Taxidermia“ wollte eine lustvoll-makabere Reise in die Welt unserer Fleischlichkeit sein – Beischlaf, Völlerei, Tod, erzählt als sozialkritische Familiengeschichte. Der Beischlaf, ein „Sternengrunzen“, hat der rumänische (!) Philosoph (!) E. M. Cioran gesagt. Diese conditio humana wollte Palfi verfilmen. Er hat es nicht geschafft.

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