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Ohne Reklame. Ein Berliner Denkmal ehrt den Erfinder der Plakatsäule Ernst Litfaß.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Leere Litfaßsäulen: Atempause für die Bürger

Berlins Litfaßsäulen werden ausgetauscht. Sie stehen ohne Reklame da - wie stille Skulpturen der Verweigerung. Ein Loblied auf die Leere.

Schön, so eine blitzblanke Fläche, ein Stück Nichts mitten im Stadtraum. Gleich vor der eigenen Haustür macht sie ihre Aufwartung, in feinem Wasserblau, so schlank wie nie: die Litfaßsäule. Ohne jedes Fitzelchen Reklame steht sie da. Sie wird ausgetauscht mit ihren 2499 Artgenossinnen, etliche sind schon gefällt und verschwunden, wie morsche Bäume. Grund ist ein Firmenwechsel, der Tagesspiegel berichtete.

Da, wo sie noch steht, nackt und bloß, verschafft sie uns Bürgerinnen und Bürgern das wundersame Erlebnis einer Leere, die man umrunden kann. Die gute alte Anschlagsäule wird zum ultimativen Freiheitsversprechen. Freie Zeit, endlich. Der Terminkalender braucht einmal nicht gezückt zu werden, denn da sind ja keine Konzerte, keine Ausstellungen, keine Messen oder sonstigen Events, die einem entgegenschreien.

Ein Nein zum 24/7-Stress unserer Tage

Kleine Atempause: Geschichte kann warten. Und die Gegenwart auch. Die leere Litfaßsäule ist das analoge Pendant zum ausgeschalteten Handy, zum abgemeldeten Social-Media-Account, ein Gestalt gewordenes Nein zum 24/7-Stress für den aufgeweckten Zeitgenossen. Eine stille Skulptur der Verweigerung, oder um es musikalisch zu sagen: die große Fermate in der Symphonie der Großstadt.

Erfunden hat die Säule bekanntlich der Berliner Reklamekönig Ernst Litfaß – dem man bis heute auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof die Ehre erweisen kann, gleich um die Ecke von Brecht und Co. Die Revolution vor 100 Jahren machte das Straßenmöbel locker mit: Auf die Kriegsdepeschen des Kaisers folgte die Wahlwerbung der Weimarer-Republik-Parteien, bis die dann der NS-Propaganda weichen musste. Heute gibt es sie verglast, beleuchtet – und überall auf der Welt.

Schrilles Graffiti grüßt jetzt die Passanten

Wobei die Plakatsäule anfangs auch wütend machte. „Alles, was irgend einen Unrath los werden will, preist sich und seine Sachen hier in der lächerlichsten, marktschreierischsten Weise an“, heißt es in einem Berlin-Reiseführer von 1856. Und: „Eine gewisse malerische Liederlichkeit, die in dem wirren Durcheinander der Zetteln an Häusern und Bäumen lag, muss der Sucht weichen, alles in spanische Stiefel zu schnüren.“

Vielleicht kehrt sie nun kurze Zeit wieder, die malerische Liederlichkeit. Bis die neuen Säulen kommen. So lange dürfen wir noch ins Leere starren. Wobei der Mensch ja schnell vom Horror vacui heimgesucht wird. Seit ein paar Tagen mehren sich jedenfalls die Krakeleien auf der Säule vor der eigenen Haustür, und ein schrilles Graffito-Girl grüßt die Passanten: „Gut schaust aus“. Big Säule is watching you: Litfaß wird interaktiv.

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