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Miriam Tölke, „Ast“, eine Collage aus dem 2022.

© ©️ Miriam Tölke

Leichtigkeit und Überzeugung: Die wunderbaren Collagen von Miriam Tölke

Zerschneiden, um Neues zu finden: Die Berliner Künstlerin stellt erstmals in der Fotografie-Galerie Johanna Breede aus

Von Dorothea Zwirner

Sie trägt ihren Kopf buchstäblich in den Wolken, denn oberhalb der Nasenspitze sind ihre Augen überklebt von einem Stück Himmel, der von einem einzelnen Vogel durchzogen wird. „The Curve“ heißt die kleine Collage von 2022, in der die Flugbahn des Vogels in eine spannungsvolle Beziehung zu der geneigten Schattenhalslinie des weiblichen Bruststücks tritt. Aus nur wenigen Elementen hat Miriam Tölke in ihren Collagen der letzten fünf Jahre eine poetische Welt zwischen „Traum und Wirklichkeit“ erschaffen, wie der Titel ihrer ersten Einzelausstellung bei Johanna Breede lautet.

Aus alten Magazinen, Büchern und Zeitschriften aus den sechziger bis neunziger Jahren sowie der Vorkriegszeit stammen die Bildausschnitte, die ein je eigenes Zeitkolorit ausstrahlen. Nur die Zeit des Dritten Reichs wird bewusst ausgespart als kontaminierte Bildquelle der Unmenschlichkeit. Meist in Schwarz-Weiß mit gelegentlichen Farbakzenten und nicht größer als das Format der Vorlage, entstehen Collagen von großer Ruhe, Leichtigkeit und Klarheit. Fast schwebend erhalten die an nur wenigen Stellen geklebten Bildausschnitte etwas von der Lebendigkeit der dritten Dimension zurück. Es ist ein Spiel mit der Zeit, bei dem sich zwei Motiv- und Bildwelten ohne Angst vor Schönheit begegnen: Frauen- und Naturdarstellungen.

Mal verbinden sie sich zu einer Art Metamorphose, mal stoßen sie wie fremde Welten aufeinander, berühren und durchkreuzen, erfahren und erleiden einander. Anders als bei Hannah Höch hat das Zusammentreffen fremder Welten in der Collage von Miriam Tölke jedoch weniger eine dadaistisch-politische als eine surrealistisch-poetische Dimension. Sofort möchte man Werke wie „Foundling“ von 2020, bei dem eine dunkle Wasserfläche die rechte Kopfhälfte der Frau wie ein Monolith zum Bersten bringt, in ein Gedicht übersetzen, das da lauten könnte: „Fest wie Granit besetzt er ihr Hirn / nistet sich ein in die klaffende Stirn / Hat sie ihn gefunden? War‘s er, der sie fand? / Es bleibt unerfindlich, wer wen an sich band.“

Nahezu unbekannt, aber 17.000 Follower auf Instagram

In manchen Collagen wie dieser ist die Bildfindung so stimmig, dass die Künstlerin auch hochwertige Editionen in kleinster Auflage gefertigt hat. Dabei experimentiert sie mit unterschiedlichen Papieren, Formaten und Reproduktionstechniken, wie dem Achival-Pigment-Print auf hauchdünnem Japan-Papier oder dem Toyobo-Print auf handgeschöpftem Kochi-Papier, bei dem die Vergilbungen der Original-Collage per Hand koloriert werden müssen, so dass im Grunde wieder Unikate entstehen. Unabhängig von der Frage nach Original oder Auflage weisen Tölkes Collagen genau wie bei Hannah Höch eine eigene künstlerische Handschrift auf, die nach ihrer Herkunft und Intention fragen lassen. Wer ist diese noch weitgehend unbekannte Künstlerin, die nach einer ersten Einzelausstellung in der Galerie Bilderhalle in Amsterdam im Sommer 2022 nun auch in Deutschland ihren ersten Soloauftritt hat, obwohl ihr bereits 17.700 Follower auf Instagram folgen?

1977 in Bielefeld geboren, begann Miriam Tölke noch vor dem Schulabschluss dank einer Begabtenprüfung an der Kunstakademie in Stuttgart Malerei zu studieren, bevor sie 2001 nach Berlin zog. Mit der Verwendung gefundener Materialien machte sie von Anfang an nicht nur aus der finanziellen Not eine Tugend, sondern arbeitete stets auch aus einem Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Recycling, das im Kontrast zur glamourösen Scheinwelt der Magazine in einer anthroposophischen Herkunft wurzelt. So lässt sich bei ihr im Zerschneiden und Neuzusammenfügen auch ein geistiger Prozess der Dekonstruktion, Transformation und Reinkarnation erkennen, der den zur Schau gestellten Magazinfrauen etwas von ihrer Natur zurückzugeben versucht. Das gelingt so leichthändig und überzeugend, wie es zum Wesen von Kunst gehört.

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