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Liebesgeschichte unter den Bedingungen der Diktatur: Der Roman "Paranoia".

© Promo/Voland&Quist

Viktor Martinowitsch mit "Paranoia": Liebe in der Diktatur

Der Weißrusse Viktor Martinowitsch erzählt in „Paranoia“ von einer gefährlichen Beziehung. Den Roman schrieb der Autor auf dem Handy - aus Angst.

Minsk muss eine schöne Stadt sein: breite Boulevards, großzügige Plätze, dazwischen verwunschene Parks – doch sind die Straßen nicht eine Spur zu breit? Und warum gibt es nirgends Bänke? „Paranoia“, so der unmissverständliche Titel von Viktor Martinowitschs Roman, wurde nach seinem Erscheinen in Weißrussland sofort verboten – aus Sicht des Regimes völlig zu Recht. Denn er erzählt eine Liebesgeschichte unter den Bedingungen der Diktatur, davon, wie Gewalt die Menschen bis in die intimsten Regungen hinein lenkt und pervertiert.

Du darfst keine Angst haben, schärft Anatoli, Schriftsteller und Hauptfigur des Buches, seiner Geliebten Jelisaweta und sich selbst immer wieder ein. Das erfahren wir aus den Abhörprotokollen des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz MSS genannt, einer hochprofessionellen, nach dem Vorbild des russischen KGB operierenden Behörde, die sogar Sinn für Humor hat und sich auch zu eigenen Fehlern bekennt. Eines der Protokolle, das von „Gesprächen persönlich-intimer Natur ohne operative Relevanz“ berichtet, wird vom Führungsoffizier beanstandet und muss neu geschrieben werden, wobei es sich zu einem kleinen Roman auswächst, der den Liebeszweifeln von Anatoli und Jelisaweta bis in die kleinsten Verästelungen nachspürt und ihre anzüglichen Sprachspiele buchstabengetreu wiedergibt. Als Anatoli verhaftet wird, scheint einer der Ermittler sogar Mitleid mit ihm zu haben. Auch damit geht die Behörde souverän um und tauscht die Vernehmer unbürokratisch aus.

Viktor Martinowitsch schrieb den Roman auf dem Handy

Er habe, als er 2009 den Roman schrieb, solche Angst gehabt, berichtet der Autor in einem Interview, dass er ihn fast nur auf dem Handy schrieb und sofort an Freunde schickte, um keine Spuren auf seinem Laptop zu hinterlassen. Geboren 1977 in Minsk, lebt er heute in Vilnius und lehrt dort Politikwissenschaft an der Europäischen Humanistischen Universität, die 2004 aus Minsk ins politische Exil ging. Der Abstand hat seinen Blick auf Weißrussland noch geschärft, und obwohl im Roman weder die Figur noch der Name des Machthabers, der wie eine Spinne im Netz scheinbar bewegungslos in der Geschichte sitzt, mit der Wirklichkeit übereinstimmt, erkennt jeder Leser sofort, wer gemeint ist.

Lukaschenkas Alter Ego heißt im Roman Murawjow und lenkt die Geschehnisse von seinem Turmzimmer aus, in dem immer Licht brennt – eine kleine Hommage an Väterchen Stalin, der so gut wie alle belarussischen Schriftsteller ermorden ließ. Das Verhältnis der Bürger zu ihrem weltoffenen Diktator, der seinem Volk wirtschaftliche Sicherheit und einige westliche Annehmlichkeiten bietet, wurde noch in keinem Roman genauer und sarkastischer beschrieben. Er erzählt auch davon, dass nicht der Diktator die Macht bildet, sondern die Summe der verstörten Bürger, die sich selbst jede Rebellion verbieten.

In einer besonders eindringlichen Szene trifft sich Anatoli mit seinem Freund Dan in einer ungeheizten, verdreckten Kneipe um sich auf das Verhör vorbereiten zu lassen. Dan, der hochbegabte Computer-Nerd mit Dreadlocks und Fan des „Dude“ (aus dem Coen-Film „The Big Lebowski“), ist der Jungstar des MSS. Er erklärt ihm, dass es sich um eine ganz normale Behörde handle und verbietet ihm das paranoide „SIE“, doch Anatoli fühlt sich in einem anderen, nicht-pragmatischen Universum und fragt sich während des Nationalfeiertags, als Panzer rollen und der Schnaps fließt, woher die fast mythische Aura kommt, die über dieser Inszenierung aus der sowjetischen Mottenkiste schwebt.

Natürlich schuften die Menschen aus Angst vor dem Gefängnis, aber immer spürt man auch eine patriarchalisch-stalinistische Gewalt, die alles zusammenzuhalten scheint: „Paranoia kann eine Volkskrankheit sein, und gleichzeitig eine nationale Idee“, stellt Anatoli fest.

"Wir sind unserem Stalin aufs Innigste verbunden."

Als er sich ausweglos in Jelisaweta, die Geliebte Murawjows verliebt, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Anatoli lacht nur, als Lisa mit ihm ins Ausland fliehen will, denn so, wie sie beide jetzt zu Murawjow stehen, ergehe es ihnen schlimmer als Trotzki: Der hatte nur ein paar Schweinereien über Stalin geschrieben, aber „wir sind unserem Stalin aufs Innigste verbunden. Familienbande!“ In Anatolis Kopf formieren sich die drei Elemente Liebe, Kind und Tod zu immer neuen, psychologisch bizarren Mustern, als Lisa plötzlich verschwindet. Es bleibt offen, ob sie den Diktator genauso liebt wie Anatoli und wer von beiden der Vater ihres ungeborenen Kindes ist.

Heute können „Antiutopien nach ganz realen Stoffen geschrieben werden. Man braucht sich kein 1984 mehr auszudenken, man muss bloß die Augen aufmachen“, heißt es einmal – ein programmatischer Satz. Denn „Paranoia" balanciert gekonnt zwischen allen Genres:. Horrorszenarien wechseln sich ab mit realsozialistischen Idyllen in der Manier Vladimir Sorokins, schwelgerisch böse Realsatiren mit zarten lyrischen Passagen, und grundiert wird die ganze Geschichte von Anspielungen auf den Film „Matrix“.

Je ungehemmter sich die Liebenden in ihrem rund um die Uhr abgehörten Apartment benehmen, desto beklemmender liest sich das Ganze. Und als der früher vom Publikum für sein kritisches Selbstbewusstsein geliebte Schriftsteller Anatoli verhaftet und im Gefängnis gebrochen wird, kommt eine klug und überzeugend erzählte Tragödie an ihr Ende. Fast lakonisch schildert Martinowitsch, wie der Gefangene sich vor den Verhören nächtelang den Kopf zermartert, um den Ermittler mit seinen Geständnissen zufriedenzustellen. Zuletzt steht er in einem Schauprozess verwirrt und ohne Zähne vor dem Richter, dem er nur vorgeschriebene Zettel überreichen darf – schweigend.

Viktor Martinowitsch:Paranoia. Roman. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Voland & Quist, Leipzig/Dresden 2014. 400 Seiten, 24,90 €.

Nicole Henneberg

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