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Dirigent Kirill Petrenko (links) und Liparit Avetisyan als rettender Ritter Vaudémont.

© Ole Schwarz

Berliner Philharmoniker: Liebe macht sehend

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker machen sich für Pjotr Tschaikowskys letzte Oper „Jolanthe“ stark.

Kirill Petrenko ist wieder wohlauf. Der Hexenschuss ist überwunden, der den Philharmoniker-Chef zur Absage des Silvesterprogramms zwang – und dem kaltblütig-heißherzigen Einspringer Lahav Shani einen Karriereschub verschaffte. Jetzt kann sich Petrenko also wieder einem seiner Herzensprojekte widmen, den Opern Pjotr Tschaikowskys. Im November hatte er erfolgreich für dessen selten gespieltes Kriegsdrama „Mazeppa“ geworben, mit konzertanten, heftig bejubelten Aufführungen in Baden-Baden und der Berliner Philharmonie. Jetzt widmet er sich – wieder in konzertanter Form, wieder mit einer komplett muttersprachlichen Solistenriege – dem Einakter „Jolanthe“, dem letzten vollendeten Musiktheaterwerk Tschaikowskys, uraufgeführt 1892 in St. Petersburg.

Die Geschichte spielt in der Provence des 15. Jahrhunderts. Die Tochter des Königs René ist blind, weiß aber nichts davon, weil der Hofstaat sie so umsorgt, dass sie ihre fehlenden Sinnesorgane nicht als Defizit wahrnimmt. Die Augen, meint sie, seien nur zum Weinen da. Erst der kecke Ritter Vaudémont, der in den verbotenen Schlossgarten eindringt und sofort Jolanthes Schönheit verfällt, spricht sie ungeniert auf ihre Blindheit an. Durch die Macht der Liebe wird er sie später sehend machen – und ihr die Angst vor der gleißenden Helligkeit nehmen, die sie nun umfängt.

Ganz anders als bei „Mazeppa“ wirkt Kirill Petrenkos Interpretation zunächst sehr zurückhaltend, als fasse er die Partitur mit Samthandschuhen an. Gemäßigte Tempi, feine Pianoschattierungen, pastellige Klangfarben bestimmen den Beginn, und wenn die Damen des Berliner Rundfunkchors am Ende der dritten Szene ein Schlaflied anstimmen, gleitet auch der sehr gut besuchte Saal in einen Zustand seligen Dösens ab.

Erst viel später wird sich erschließen, wie weitblickend Kirill Petrenko von Anfang an agiert. Weil er nämlich die ganze erste Stunde der Oper als einen einzigen Spannungsbogen anlegt, bis hin zum Höhepunkt des Liebesduetts mit seiner hollywoodreifen Schlusswendung.

Asmik Grigorian begeisterte in der Titelrolle.
Asmik Grigorian begeisterte in der Titelrolle.

© Ole Schwarz

In Asmik Grigorian hat er eine Titelheldin an seiner Seite, die Jolanthes wechselnde Gemütszustände in jeder Sekunde beglaubigt, als Meisterin vokaler Wahrhaftigkeit. Um sie herum sind lauter Männer mit machtvollen Stimmen, Mika Kares als raumgreifender König René, Igor Golovatenko als Herzog von Burgund, der sich die Gelegenheit nicht entgehen lässt, die schmissigste Arie des Werkes effektvoll auszureizen, mit baritonalem Edelstahl. Mächtig in die Brust wirft sich auch Liparit Avetisyan als rettender Ritter Vaudémont, schmachtet prachtvoll selbst in höchsten Höhen, verströmt sich in emotionaler Emphase, streut ungeniert Tenorschluchzer ein.

Nach dem Liebesduett wird es kompositorisch arg konventionell, mit hohl tönendem Gotteslob für die Wunderheilung. Doch Petrenko, das Orchester und die Solist:innen stürzen sich mit Verve in die Hosianna-Herrlichkeit, zelebrieren so lustvoll ihren Fortissimo-Furor, bis die Akustiksegel unter der Philharmoniedecke flattern.

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