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Die chilenische Schriftstellerin Lina Meruane, 50

© Mariana Garay/Verlag

Plurale Herkunft: Lina Meruanes Buch "Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina"

Die chilenische Autorin Lina Meruane erzählt in "Heimkehr ins Unbekannte", wie sie sich auf die Suche nach ihrer palästinensischen Herkunft macht.

Diese Szene in Lina Meruanes Buch „Heimkehr ins Unbekannte“ ist eine gleichermaßen komische wie gespenstische. Da sitzt sie mit Aktivistinnen und Aktivisten aus unterschiedlichsten Ländern in einem Kleinbus, der über palästinensische Schotterstraßen durchs Land bringt, und dann wird der Bus an einem Checkpoint kontrolliert.

Der israelische Soldat fragt den vorn sitzenden Deutschen, einen Philosophen, nach dessen Herkunft, erhält die Antwort „Germany“ und guckt weiter nach hinten in den Bus. Und fragt dann, ob hier alle aus „Germany“ kommen würden. Worauf ihm ein vielstimmiges „Ja“ aus dem Bus entgegenschallt, „ein afrikanisches, indisches und palästinensisches yes!, ein yaaaa!, das bestimmt von Ägypten kommt“, wie Meruane schreibt: „We are all Germans“.
Es wäre anders gekommen, hätte sich der Soldat die Mühe gemacht, alle Gesichter und Pässe genau zu studieren, hätten sich die Buspassagiere nicht spontan allesamt ausgerechnet als Deutsche ausgegeben, weiß Meruane. Bis in „Geist und Seele“ wäre die Gruppe stundenlang verhört worden, wie die Palästinenser tagtäglich an den Checkpoints: „Wir wussten, Palästina anzugeben wäre eine fatale Idee gewesen, Chile oder Chili! eine schlechte, da Chile ebenfalls ein Land mit Palästinensern war.“

In Chile leben 400.000 Menschen palästinensischer Abstammung

Die in New York lebende Schriftstellerin und Literaturdozentin Lina Meruane ist eine dieser Chileninnen mit palästinensischem Hintergrund. Sie war 2017 Stipendiatin des DAAD in Berlin und soll in diesem Sommersemester eigentlich die Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut der FU antreten.

1970 in Santiago geboren, sind ihre Eltern Kinder palästinensischer Einwanderer. Diese emigrierten überwiegend zwischen 1900 und 1930 nach Lateinamerika, größtenteils um der militärischen Rekrutierung durch das Osmanische Reich zu entgehen. Rund 700.000 Menschen palästinensischer Herkunft gibt es in Lateinamerika, über die Hälfte davon leben in Chile.

Deren Vorfahren kamen wiederum zumeist aus den heute in den von Israel besetzten Gebieten liegenden Städten Bethlehem, Beit Jala, Beit Sahour und Beit Safafa. So wie die Großeltern von Lina Meruane.
In ihrem Buch „Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina“, dem zweiten, das es nach ihrem Roman „Rot vor Augen“ auf Deutsch gibt, erzählt Meruane, wie sie sich auf die Suche nach ihrer Herkunft begibt und schließlich auch Israel besucht, Palästina, 2011 und ein paar Jahre später ein weiteres Mal.

Es ist für sie ein „Zurückkehren anstelle eines anderen“. Ihr Großvater scheiterte 1967 wegen des Sechs-Tage-Kriegs daran, Beit Jala wiederzusehen. Und ihr Vater sträubte sich stets dagegen, „zurückzukehren“, die Heimat seiner Eltern kennenzulernen.

Gibt es das: das Fremde? Das Eigene?

Meruane wohnt in Tel Aviv in Jaffa bei einem Schriftsteller-Kollegen und dessen Frau, Ankar und Zima. Mit beiden fährt sie nach Beit Jala und trifft hier potentielle Verwandte, Großtanten, Großcousinen.

Nach Gaza darf Meruane nicht, Hebron und den Ostteil Jerusalems aber lernt sie kennen, und eindringlich befasst sie sich mit dem Unauflösbaren des Nahost-Konflikts, mit den Ungerechtigkeiten, den Schikanen der Besatzung, dem Irrsinn, dem die Palästinenser in Israel mitunter ausgesetzt sind. Der zweite Teil, überschrieben mit „Gesichter in meinem Gesicht“, der für dieses Buch geschrieben wurde (der erste Teil erschien 2014 schon als englische und spanische Ausgabe), erweitert den Rahmen.

Meruane reist abermals nach Palästina, nach Ramallah und Beit Jala. Sie macht sich nun aber vermehrt Gedanken über das globale Herkunftswirrwarr, über die Schwierigkeiten, ja: die Unmöglichkeit, das Eigene und das Fremde genau bestimmen zu können, genau antworten zu können auf die Frage: „Where are you from?“.

Ihr geht es um die verstärkten digitalen Überwachungsanstrengungen überall auf der Welt, um die politischen Täuschungen und Selbsttäuschungen, die vielen das Leben erschweren.

Geschickt spielt Meruane mit personalen Zuschreibungen wie „Griechenland“ oder „Senegal“, sinniert, was ein „ausschließlich „jüdischer Staat“ ist, wenn dort 20 Prozent Araber leben, fragt, wie die Rabbiner mit Muslimen umgehen, „die genetisch von Juden abstammen, oder Juden mit palästinensischen Genen?“ Und schließt: „Ein entsetzliches Streben, das nach Reinheit, die Reinheit hat uns nichts als Probleme gebracht.“

Umso bitterer der Satz der griechischen Aktivistin, nach dem der israelische Soldat den Bus hat weiter fahren lassen: „Nicht eine Minute haben wir geglaubt, dass uns die deutsche Maske zusteht. Ein kurzer Karneval, mehr nicht.“

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