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Literatur: Bricht jetzt die Zeit der selbst ernannten Sheriffs an?

Die Katastrophe ist nah: Kathrin Röggla protokolliert in „Die Alarmbereiten“ die westliche Untergangsangst.

Dem amerikanischen Soziologen David Riesman verdanken wir eine berühmte Typologie, derzufolge die Konsumgesellschaft jenen außengeleiteten Zeitgenossen hervorgebracht hat, der all seine Antennen auf die Umwelt ausrichtet und jede Mode und mediale Aufgeregtheit adaptiert. Riesmans Zeitgenosse Arnold Gehlen hat diesem „chronischen Alarmzustand“ eine wichtige sozialpsychologische Steuerungsfunktion zugeschrieben.

Eine besondere Ausprägung entwickelte sich nach 1970. In erklärter Verantwortung für das Wohl der Welt fühlten sich viele aufgerufen, die unterschiedlich kostümierten Auftritte des Untergangs zu skandalisieren. Ihrem Aufmerksamkeitsfuror entging kein Jota FCKW, kein angekränkelter Baum, kein unsichtbares Becquerel und keine noch so gut getarnte Mittelstreckenrakete.

Einige mentale Sedimente davon sind in der „einsamen Masse“, von der Riesman sprach, heute noch zu finden. Im Windschatten des Konsumhedonismus lauert nach wie vor die permanente Katastrophenerwartung. Terror, Krieg, Klimawandel, Lebensmittelskandale, Naturereignisse aller Art: Auf alles und jedes wird in Ist-Geschwindigkeit reagiert, und eine unablässige Experten- und Laiensuada nimmt ihren Lauf.

Den modernen Facetten dieses „chronischen Alarmzustands“ hat Kathrin Röggla ihr neues Buch gewidmet, das Szenarien virtueller Katastrophenwahrnehmung entwirft. Im Sitzungssaal eines Hotels etwa verfolgt eine Expertengruppe vor Monitoren, was sich auf der anderen Straßenseite ereignet, nachdem der worst case eingetreten ist: Reagieren die Menschen überlegt oder überstürzt, neigen sie zu Panikeinkäufen oder plündern sie gar die Läden? Bilden sich Überlebensteams, stehen neue Anführer bereit?

Wo gibt es Organisations- und Sicherheitslücken? Und warum verschwinden Menschen plötzlich von den Monitoren wie der Protokollant, der nicht mehr in den Saal zurückkehrt und ersetzt werden muss? Was sich außerhalb des Hotels ereignet, ist nicht die Realität, sondern ein soziales Experiment, aus dem Expertise gewonnen wird.

Diese vermittelte Wahrnehmung wiederholt sich im Formalen. Was „Die Zuseher“, wie das Eingangsszenario betitelt ist, „miterleben“ und analysieren, wird, wie das Geschehen auf den Monitoren, gefiltert wiedergegeben in Form des räsonierenden Selbstprotokolls: „bricht hier die zeit der selbsternannten sheriffs aus? ist das schon das neue mittelalter das unweigerlich anbricht? ... er ahne, er bleibe gleich alleine zurück in dieser landschaft ‚mit ihrer wahnsinnigen geographie‘, um seinen vorredner zu zitieren.“

Die indirekte Rede und das Konjunktivische, die oft durch mehrere Wahrnehmungsschleifen gegangene Vermittlung, ist auch in den folgenden Szenarien das beherrschende Stilmittel. „Die Ansprechbare“ berichtet von der ewig alarmierten Freundin, die sich in gehetzter Rede jeder neuesten Umweltkatastrophe annimmt, in einem „Kassandrapräsens“, der den Freundeskreis in die Flucht schlägt. Waldbrandareale, Permafrostdichten, Migrationskarten, alles ist präsent in diesem Angsthorizont.

Schon die Kleinsten sind Teil dieses permanenten Ausnahmezustands. In einer bitterbösen Persiflage kolportiert Röggla die verquere Sicht „der erwachsenen“ auf ihren Nachwuchs. Auf einem Elternabendtribunal gerät eine Mutter ins Schussfeld, weil ihre Tochter durch den ständigen heimischen Katastrophenkonsum die übrigen Kinder angeblich verunsichert. Die „tickende Zeitbombe“ stört den inneren Frieden und steht unter ständiger Observation. Wenn erwartete Ausnahmeleistungen und äußere Anpassung außer Kontrolle geraten, neigt das Mittelschichtsbiotop zu aggressiver Ausgrenzung. Wo die alarmierte Gegenwärtigkeit professionell auftritt wie im Falle von Kriegsberichtserstattern oder NGO-Vertretern in Krisengebieten, schlägt das Geschäft mit der Katastrophe in Zynismus um. Die „aufmerksamkeitsenergie“ erschöpft sich in dem Maße, wie der „recherchepotlach“ aus dem Gleichgewicht gerät und das Personal der menschelnden Mediengeschichten erinnerungslos zurückbleibt. In den Transiträumen der Welt gehen aber auch die „recherchegespenster“ und „verbuschten sozialsöldner“, die die Hoffnung auf „demokratieexport“ aufgegeben haben, verloren.

Im zentralen Stück der Sammlung, der den Fall Natascha Kampusch fokussiert, sind es dann „pseudo-psychologen“, „möchtegern-journalisten“, „quasifreunde“ oder „irgendwie-nachbarinnen“, die aus ihrer Beinahe-Nähe zum Opfer Kapital schlagen. Die eigentlichen Akteure der Katastrophe verschwinden vom „Monitor“ der öffentlichen Aufmerksamkeit. Obwohl „vollständige entwarnung nicht gegeben werden kann“, gilt es „abzuwarten, bis eine normalisierung eintritt“, meldet im letzten Kapitel der Deutschlandfunk. Röggla schließt damit nicht nur den thematischen Kreis, sondern setzt auch eine Pointe, denn ihr Buch geht unverkennbar zurück auf eine Rundfunkarbeit. Was den Leser enervieren mag, die unablässig geschichtete Rede, das ohne jede Versalie aufmarschierende Krisenvokabular, hat im Ohr seinen eigenen Reiz.

Wie überleben? Gehlen behauptete, auch durch „Flucht in die Unauffälligkeit“ oder durch jenen „Totstellreflex“, den medialer Alarmismus auslöst.

Kathrin Röggla:

Die Alarmbereiten.

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 187 Seiten, 18,95 €.

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