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Heute befindet sich hier immer noch die Librairie Gilbert. Der Pariser Boulevard Saint-Michel um 1938/39. Foto: ullstein bild/Roger Viollet

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Literatur: Schiffbruch zu Lande

Exil als Zustand: Hans Sahls Roman „Die Wenigen und die Vielen“ in einer Neuausgabe.

Paris im Juli 1937: In einem Hinterzimmer treffen sich aus Nazi-Deutschland geflohene Kommunisten, um auf Anordnung Moskaus einen der Ihren zu denunzieren. Nur einer weigert sich, seine Unterschrift zu leisten, steht einfach auf und geht hinaus, das kalte Schweigen der anderen im Rücken. Tritt hinaus auf den Boulevard Saint-Michel und erlebt, wie aus einer grauen, gesichtslosen Masse mit einem Mal Menschen werden mit ganz unterschiedlichen Gesichtern.

Was es für ihn bedeutet, seinen stalinistischen Freunden die Gefolgschaft zu verweigern, weiß dieser Georg Kobbe nur zu gut, der plötzlich eine Ahnung hat „von dem Recht zu zweifeln, das am Anfang jeder Philosophie steht, und von dem Glück, allein zu sein in einer Zeit, in der es besser ist, wenn auch vielleicht gefährlicher, zu den wenigen zu gehören als zu den vielen ...“

„Die Wenigen und die Vielen“ lautet auch der Titel dieses Romans von 1959. Die Verweigerung der Unterschrift ist, wie so vieles in diesem Buch, autobiografisch; die realen Hintergründe dieser Parteiintrige hat Hans Sahl Jahrzehnte später in seinen „Memoiren eines Moralisten“ beschrieben. Das Nein zur Partei ist so etwas wie Sahls geistige und moralische Unabhängigkeitserklärung. Sein Alter Ego im Roman, Georg Kobbe, zahlt für seine Entscheidung einen hohen Preis. In beeindruckenden Passagen streift sein im Übrigen gänzlich unheroischer Protagonist, von den Lebensmittelpaketen aus Moskau nun abgeschnitten, durch Paris – versucht sich an Worten wie „Brot“ satt zu essen, presst sein Gesicht an Schaufenstern platt, beobachtet, wie eine Dame in der Metro immer weiter von seiner zerlumpten Gestalt wegrückt.

Es ist das prototypische Ich, das in der Moderne zwischen den Mächten und Ideologien zerrieben zu werden droht und das dennoch protestiert, der Einzelne, dem dieser große Roman ein Denkmal setzt. Im Roman findet der scheinbar zum Untergang verurteilte Individualismus ein anrührendes Symbol – in der Beschreibung des flatternden „kanariengelben Schales“ von Kobbes Freund Ignazio Morton, der sich gleich nach der geglückten Überfahrt in die USA in seinem Hotelzimmer erhängt.

Sahls Roman ist, nach einem treffenden Wort von Fritz Martini, der „Roman des Exils überhaupt“. Schon in seiner fragmentarischen Form, zwischen erster und dritter Person wechselnd, spiegelt er die Zerrissenheit des Emigrantenlebens wider. In der Rahmenhandlung schreibt man das Jahr 1942; der Protagonist hat das sichere, ihm aber kulturell unendlich fremde New York erreicht, nach Stationen in Prag, Amsterdam, Paris, einem französischen Internierungslager und Marseille. In seinem billigen Hotelzimmer denkt Georg Kobbe an seine Kindheit in der wilhelminischen Gesellschaft zurück und an die Jahre als linker Journalist in der Weimarer Republik. Er blättert in Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Notizen aus den Jahren der Flucht, aus denen sich dieser bemerkenswert komponierte Roman zusammensetzt. Und prüft die Gattung des Romans auf ihre Tauglichkeit, eine unmenschlich gewordene, dahinrasende Zeit noch widerzuspiegeln. „Der Roman unserer Zeit ... ist ein Wurf ins Ungewisse, aus dem Nichts kommend und wieder ins Nichts mündend, ein Ausruf der Verwunderung, zwischen zwei Fragezeichen gesetzt ...“

Die Nazis bleiben in Sahls Roman merkwürdig blasse Gestalten, gesichtslose Männer in grünen Lodenmänteln. Im Kontrast dazu entfaltet der Autor ein faszinierendes Figurenpanorama von Opportunisten, Salondamen und Emigrantentypen. Zahlreiche Autorenkollegen Sahls lassen sich in den vielen plastischen Porträts wiedererkennen: Hinter dem sich in Paris zu Tode saufenden namenlosen Dichter verbirgt sich natürlich Joseph Roth, hinter dem proletarischen Dichter Jochen Scharf Bertolt Brecht. Die faszinierendste Figur ist jedoch Kobbes Freundin Luise, die in der Realität Lotte Goslar hieß. Im Roman erfindet sie immer neue abstoßende Bühnenkostüme für sich, um mit einer Ästhetik des Hässlichen und Grotesken ihrer Zeit den Spiegel vorzuhalten, hinter der zugleich die „schmerzliche und zugleich süße Lust“ steht, „verlacht, ausgelacht zu werden, sich zu unterscheiden, anders zu sein, ganz einmalig und ganz abseitig“. In Europa gefeiert, stößt sie damit in den USA nur auf Unverständnis.

Am Ende des Romans ist der Krieg vorbei, die Emigranten, darunter auch Luise, gehen auf das Schiff, das sie zurück nach Europa bringen wird. Nur Georg Kobbe bleibt, wie damals sein Autor, in den USA zurück, für ihn wird das Exil nicht mehr enden, „es war ein geistiger Zustand, eine Lebensform geworden, eine Art von passivem Widerstand gegen eine Welt, die nur noch in Kräften und Gegenkräften, in Bewegungen und Gegenbewegungen dachte.“ Und Kobbe, der Exilant, gleicht „einem Schiffbrüchigen, der an eine unbekannte Küste gespült worden ist und sich verwundert umsieht: Wo bin ich?“

Bei seinem Erscheinen in den Fünfzigern erntete der Roman wohlwollende Kritik, wurde aber rasch wieder vergessen. Die Einsichten seines Protagonisten waren in der Nachkriegszeit wenig willkommen: dass jeder Mensch, der es ehrlich meine, ratlos sei, dass „es nicht eine Antwort gibt, sondern viele, und dass nichts beständig ist in diesem Meer der Ungewissheit“.

Hans Sahl:

Die Wenigen und die Vielen. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 368 Seiten, 22,95 €.

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