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"Der Koffer meines Vaters" von Orhan Pamuk: Poetische Gerechtigkeit

"Der Koffer meines Vaters": Orhan Pamuk erzählt aus dem Leben eines Schriftstellers. Pamuk vertraut auf die Kraft der Literatur. Er ist einer ihrer besten Anwälte.

Man muss sich Orhan Pamuk als glücklichen Menschen vorstellen. Nicht, weil er vor vier Jahren den Literaturnobelpreis gewonnen hat oder seine inzwischen in über fünfzig Sprachen übersetzten Bücher schon davor in aller Welt viel gelesen und gekauft worden sind. Das Glück besteht für den türkischen Schriftsteller allein darin, sich täglich mit Literatur beschäftigen oder, was noch viel wichtiger ist, diese selbst schreiben zu können: „Das beste Heilmittel, die ergiebigste Glücksquelle ist nämlich für Menschen wie mich, täglich eine halbe Seite zu schreiben“. Und er weiß aus Erfahrung: „Das Leben ist schwer, wenn man nichts schreibt.“

Natürlich wird dieser Glückszustand immer mal wieder von einem Gefühl des Unglücklichseins beeinträchtigt, gibt es Tage, an denen Pamuk schlechte Laune hat, verzweifelt ist gar, nämlich wenn er nichts Zufriedenstellendes zu Papier gebracht hat. Doch ändern diese Beschwernisse nichts daran, dass er täglich seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht, dass es für ihn nichts Schöneres gibt, „in einem Zimmer allein zu sein und meine Phantasie spielen zu lassen.“ Zudem sei Glücklichsein nicht zuletzt ein „Gebot der Vernunft“.

Das Schöne ist, dass Orhan Pamuk es versteht, auch seine Leser an diesem Glück teilhaben zu lassen. Aus vielen Texten seiner Essaysammlung „Der Koffer meines Vaters“ lugt es heraus, selbst dann noch, wenn es um die Provinzialisierung und zunehmende Islamisierung der Türkei oder um Saddam Hussein, George W. Bush und Tayyip Erdogan geht. Pamuk erzählt jedoch vorwiegend „aus dem Leben eines Schriftstellers“ – und dieses ist abwechslungsreicher und aufregender, als es das tägliche, bis zu zehn Stunden währende und schon seit über dreißig Jahren andauernde Sitzen allein in einem Zimmer zunächst verspricht. Die Stadt Istanbul bietet ihm Anlass zu schönen Betrachtungen über ihre ständigen Verwandlungen, ihre Inseln und ihre Bosporusdampfer, die ihm das Gefühl vermitteln, „mitten in der Stadt zu sein und mein Leben inmitten des Lebens der anderen zu spüren.“ Nicht zuletzt ist Istanbul der Hort unermüdlich sprudelnder Erinnerungen. Aber auch New York, die „Hauptstadt der Welt“, in der er einen Lehrauftrag der Columbia University hat, animiert Pamuk zu wunderbaren Miniaturen, kulminierend in dem Satz: „Man kann vielleicht mit leeren Händen von Partys oder Supermärkten kommen, doch dass sich eure Augen in New York nicht satt sehen, ist einfach unmöglich.“

Orhan Pamuk ist ein Schriftsteller, der sich genauso wenig sattlesen kann. So lässt man sich mit ihm genauso gern auf die „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“, Victor Hugo, Thomas Bernhard oder Laurence Sternes „Tristram Shandy“ ein. Gerade „Tristram Shandy“ möchte man nach dem kleinen Essay sofort wieder zur Hand nehmen, wiewohl es Vorbehalte gibt. Denn die passager immer wieder auftauchende Langeweile, die man bei der ersten Lektüre empfunden hat, ist noch zu sehr in Erinnerung. Was sich wiederum Pamuk gut vorstellen kann, weshalb er dem ungeduldigen, genervten Tristram-Shandy-Leser und auch dem sensibleren, klügeren ins Stammbuch schreibt, „dass hinter seinem Zorn auf das Buch und dem aufgewirbelten Staub mehr steht: die Erkenntnis über die den Standort des Menschens in der Welt bestimmende fundamentale Funktion der Literatur und darüber, welche tiefgründigen und wunderbaren Dinge die Menschheit mit dem Schreiben vollbringen kann.“

Pamuk vertraut auf die Kraft der Literatur. Er ist einer ihrer besten Anwälte. Die Lektüre seiner Bücher und Essays hat gerade für bildungsbürgerliche Kulturpessimisten etwas von einem stämmigen Rettungsanker. Wer kann sich schon einem Romananfang wie „Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich“ entziehen? „Der Koffer meines Vaters“ macht da keine Ausnahme. Zumal darin immer wieder die Poetologie des Nobelpreisträgers durchscheint. Diese leitet sich aus den Wechselwirkungen von Leben und Literatur ab. Da spielen die Orte, an denen seine Literatur entsteht, genauso eine Rolle wie diese später in den Büchern ihr Eigenleben annehmen. Orhan Pamuk versucht sich beim Schreiben eines Buches ein jedes Mal von Neuem daran, „wie man den Schmerz von anderen verstehen, diesen zum Leben erwecken könne“. Um die große Macht der Liebe geht es ihm, um die Ahnungen des Todes – aber auch um die Erfahrung der Wirklichkeit der Gedanken und was Geschichte wie Gegenwart auf die großen Fragen des Lebens und seinen Sinn für Antworten haben. Und darum, ob das Individuum auch unter schwierigsten Lebensumständen noch auf sein Glück pochen darf. In späteren Notizen zu „Rot ist mein Name“ erklärt er, dass in diesem Roman das Dunkle und das Böse in einem belebenden Widerspruch zu einer „positiven, das Leben richtig und direkt betrachtenden Beobachtungsweise“ stünden: „Die Kunst, das Leben, die Ehe, das Glück sind die Themen des Buchs.“

Das klingt eindeutiger, als es sich dann darstellt. Doch sind es die Interaktionen von Leben und Schreiben, von Fantasie und Wirklichkeit, auf die Pamuk oft zurückkommt. In New York erlebt er, wie die Stadt sich „allmählich von einem Traumdekor in wirkliche Asphaltstraßen“ verwandelt; doch „welches das wirkliche New York war, konnte niemand sagen“. In einer kleinen Notiz erklärt er, wie er „poetische Gerechtigkeit“ übt und sich auf dem Papier etwa an einem gleichaltrigen Jungen namens Hasan rächt, in dem die Hasans in seinen Büchern immer die Bösen sind. Und überhaupt seien seine Romane Welten, „in die ich mich beseligt zurückziehen kann“.

Ohne Unterlass bewegt sich der Schriftsteller Orhan Pamuk in diesem Transitraum zwischen Leben und Schreiben. Sich aber überhaupt darin bewegen zu können, ein Wanderer zwischen den Welten zu sein, ist für ihn vermutlich das größte Glück auf Erden.

Orhan Pamuk: Der Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines Schriftstellers. Hanser Verlag, München 2010. 344 Seiten, 24, 90€.

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