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Stéphane Hessel: Für unterwegs

In Paris nimmt er immer noch die Metro. Dabei sagt er sich in Gedanken ein paar Verse auf oder Passagen aus einem Theaterdialog, die für die vier oder sechs oder zehn Stationen reichen. Poesie des Diplomaten: Stéphane Hessel zum 90.

Jeden Tag lernt er zu Hause einen neuen Text, auf Deutsch, Französisch oder Englisch. Sein Repertoire reicht für einen langen Abend, mit Rilke, Apollinaire, Keats. Dazu Shakespeare, Molière oder auch die Gedichte seines Vaters Franz Hessel, der als Flaneur und feinsinniger Autor („Spazieren in Berlin“, „Pariser Romanze“) inzwischen wohl weniger bekannt ist als durch seine biografische Rolle: als Vorbild für den Film „Jules und Jim“.

Dem Elternhaus verdankt der am 20. Oktober 1917 in Berlin geborene Stephan die Leidenschaft für die Poesie, die ihn durch die Jahrzehnte begleitet hat, auch durch die Monate in den Konzentrationslagern Buchenwald und Dora.

Dieser Mann der Poesie ist auch ein Kämpfer. Weil seine Mutter, Helen Grund, der Liebe wegen nach Paris auswandert, wird er (wie auch sein Bruder Ulrich) zum Franzosen; seine Arbeit für den französischen Widerstand im besetzten Frankreich bringt ihm die Lagerhaft ein. An seinem Geburtstag 1944 wird ein anderer Häftling unter seinem Namen verbrannt; das Dokument, das seinen „Tod“ vermerkt, ist erhalten. Mit neuem Namen erlebt Stéphane Hessel nach unbeschreiblichen Qualen und einer riskanten Flucht das Kriegsende. Keine zwölf Monate später vertritt er Frankreich bei den Vereinten Nationen in New York.

Diplomat ist Hessel geblieben, zuletzt geehrt mit dem Titel „Ambassadeur de France“. Seine Gebiet ist vor allem die Entwicklungspolitik, insbesondere in Zusammenhang mit der französischen Entkolonialisierung. Noch heute ist er unermüdlich unterwegs, rund um den Globus, von Ruanda bis Jerusalem, und kommt auch immer wieder nach Berlin – demnächst im November zur Eröffnung einer Ausstellung über Varian Fry (Tsp. vom 14. 10.). Das Lebenselixier des Mannes, dessen unerschütterlicher Optimismus immer wieder erstaunt, sind die Hoffnung und die Poesie. Nach seinen Memoiren „Ein Tanz mit dem Jahrhundert“ hat er im vorigen Jahr seine wichtigsten Gedichte in einer dreisprachigen Anthologie versammelt, unter dem Titel „O ma mémoire. La poésie, ma nécessicité“. Eine Lektüre auch für die Metro. Hessels Leben ist eine Lektion für die Vergesslichen. Manfred Flügge

„Ein Tanz mit dem Jahrhundert“ ist 2002 bei Arche erschienen, das Poesie-Buch 2006 bei Le Seuil, Paris.

Manfred Flügge

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