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Literatur: Gute Vibrationen

Aus dem Innern der Gegenkulturen: Dana Spiottas schön hellsichtiger Roman „Eat the Document“

D ieser Roman beginnt nicht so, als würde er voller Leichtigkeit eine Geschichte aus der amerikanischen Pop- und vor allem Gegenkultur erzählen wollen. Sondern er stapft gleich ordentlich literarisch los mit einem klassischen Motiv: das der Identität und wie es ist, in eine andere zu schlüpfen oder schlüpfen zu müssen. „Ich bin nicht Stiller“, um es mit Max Frisch zu sagen. Oder, religiöser grundiert, wie hier, in Dana Spiottas Roman-Erstling „Eat the Document“, der 2006 für den National Book Award nominiert wurde: „Ein Leben kann schnell seinen Segen verlieren.“

Anders als Stiller hat Mary Whittaker aber einen handfesten Grund, jemand gänzlich anderes zu werden: Im September 1972, in der Blüte der Anti-Vietnamkriegsbewegung, beteiligt sie sich mit ihrem Freund, dem Filmemacher Bobby Desoto, bei einem Anschlag auf das Haus eines Wissenschaftlers, der die Entwicklung von Napalm-Bomben mitverantwortet. Aus Versehen kommt dabei dessen Haushälterin ums Leben, und Mary muss nun endgültig untertauchen und eine neue Identität annehmen. Was ihr äußerlich gut gelingt: „Diese verwaschene Unauffälligkeit, die sie ihr ganzes Leben lang belastet hatte, war jetzt ein Vorteil geworden, ihre Anonymität war ihre Rettung. Ihr Aussehen hatte auf der Flucht seinen perfekten Kontext gefunden.“ Aus Mary Whittaker wird Caroline Sherman und später Louise Barrot, die erneut einen Mann kennenlernt, heiratet und einen Sohn bekommt, Jason.

Mit Jason aber nimmt „Eat the Document“ sogleich eine andere Spur auf, denn er ist es, der Ende der neunziger Jahre in seinem Zimmer sitzt und sich fragt, warum seine ihm manchmal so rätselhaft vorkommende, verschlossene und zurückgezogen lebende Mutter plötzlich einen Beach-Boys-Song über die Maßen lobt und auch noch weitere Schlauheiten über diese Band von sich zu geben weiß: „Am meisten klingen sie so, wenn keine Texte dabei sind. Wenn sie ihre Stimmen als Instrumente benutzen. Nichts als reine perfekte Form.“

Man fragt sich natürlich, warum sich ein Teenager des Jahres 1998 ausgerechnet für Musik der sechziger Jahre begeistert, und das wie ein echter Nerd: Jason sammelt nicht nur Beach-Boys-Bootlegs von „Smile“, er interessiert sich auch für verschollene Alben anderer Musiker, die „Heroin Sessions“ von Keith Richards und Gram Parsons etwa, die diese 1971 in Südfrankreich aufgenommen haben, für das Soloalbum eines Big-Star-Mitglieds, das eben nicht Alex Chilton heißt, oder für Bob Dylans „Basement Tapes“.

Doch dürfte das zum einen mit dem Alter von Spiotta zu tun haben, das irgendwo zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig zu veranschlagen ist (im Klappentext steht es nicht, auch auf ihrer Website verschweigt sie es). Und es ist zum anderen höchstens ein Schönheitsfehler. In Folge jedenfalls findet „Eat the Document“ zu seiner Form, und Spiotta erzählt abwechselnd, wie sich ihre Heldin bis Ende der neunziger Jahre durchschlägt, und wie es im Leben einiger Einwohner der Stadt Seattle im Nordwesten der USA zu diesem Zeitpunkt zugeht. Neben Jason sind weitere Protagonisten des Romans die junge Miranda, die sich in Seattles Subkultur herumtreibt, der mutmaßliche Vietnamkriegsveteran Henry, der von Napalm- und-Agent-Orange-Halluzinationen heimgesucht wird, und sein Kumpel Nash, der einen alternativen Buchladen führt und hier Treffen obskurster, nonkonformistischer Splittergruppen abhält, seien es militante Ökoaktivisten oder Antiglobalisierungsgegner, seien es die Neo-Tea-Party-Front oder die K-Nation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Buchstaben k aus Wörtern zu entfernen oder hinzuzufügen.

Das Schöne und Aufregende an Spiottas Roman ist, wie sich in ihm die Gegenkulturen der sechziger und der neunziger Jahre spiegeln, überblenden und popkulturell überformt werden: die eine mehr vom Idealismus geprägt, die andere spielerischer, aber auch zynischer. Mary alias Caroline alias Louise gerät vor ihrer Heirat in feministische Zirkel und lebt eine Zeit lang (ganz groß, ganz seltsam, ganz amerikanisch!) in einer nur von Frauen bewohnten, selbstverwalteten Hippie-Gemeinde. Auch Beach Boy Dennis Wilson läuft ihr eines Tages in einer kalifornischen Bar über den Weg.

Genauso ist im Seattle der neunziger Jahre Bewegung Trumpf, hat der Kampf gegen Nike oder Microsoft was ebenso Obligates wie Groteskes – der norwegische Künstler Matias Faldbakken beispielsweise und sein abwegiger, subkulturelle Millieus lustvoll in Flammen setzender Roman „Macht und Rebel“ winkt hier schon einmal freundlich aus der Zukunft.

Und doch findet Spiotta, die mit Mann und Tochter im US-Bundesstaat New York lebt und im ersten Stock ihres Hauses ein Restaurant betreibt, immer wieder zu ihrem Thema der Identitätsbefragung zurück. Nicht nur ihre Heldin ist auf der Suche nach sich selbst, nicht nur dieser dämmert, dass es vor allem die Erfahrungen und Erlebnisse sind, die ein Ich ausmachen, nicht eine vordergründige Biografie mit irgendwelchen Lebens- und Eckdaten. Auch alle anderen Figuren sind primär am Sich-Finden und Neuerfinden: Henry, Miranda, Nash (der sich, das ahnt man schnell, als Marys alte Liebe Bobby Desoto entpuppt) und nicht zuletzt Jason, der seiner Mutter schließlich durch einen Film von Desoto auf die Spur kommt.

Am Ende löst sich in diesem Roman alles vielleicht eine Spur zu perfekt auf, fast nach Art eines Creative-Writing-Programms. Selbst der Titel „Eat the Document“ ist absolut stimmig: Er verweist auf einen nie veröffentlichten Dokumentarfilm über Bob Dylans Großbritannien-Tour 1966, auf der Dylan erstmals mit elektrischer Gitarre auftrat. Verschwinden, Suchen, Neuerfinden, you name it. Wer aber einen langen, intensiven Blick in das Innere des alternativen Amerikas werfen und dabei auch literarisch auf seine Kosten kommen will, ist mit Spiottas Roman bestens bedient.

Dana Spiotta: Eat the Document. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer. Kiwi Paperback, Köln 2008. 350 S., 9, 95 €.

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