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Literatur: Unerlöst bleiben

Grimmige Bilanz: Ruth Klüger setzt ihre Lebenserinnerungen fort

Warum empfinden nicht nur Deutsche, sondern auch viele Juden die sichtbar getragene KZ-Tätowierung am Unterarm als Provokation? Weil sie daran erinnert, „dass die anderen unbehelligt leben durften“, glaubt Ruth Klüger, „durch die falsche Logik des Unbewussten wird mein Dasein per se zum Vorwurf“. Gelitten zu haben sehen andere als Schande an, es ist wie vergewaltigt worden zu sein.

Für solche Beobachtungen ist Ruth Klüger bekannt, besser gesagt, berüchtigt. 1992 erschien von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin, die sich gerne ärmellos kleidet, „weiter leben“, die Erinnerung an ihre Kinderjahre in Theresienstadt und Auschwitz. Nun hat sie mit „unterwegs verloren“ die Fortsetzung vorgelegt, über ihre amerikanischen Jahre bis zur Gegenwart.

Gleich zu Beginn bekennt die 77-Jährige, die heute in Kalifornien und Göttingen lebt, dass sie sich ihre „Hundemarke“ inzwischen doch hat weglasern lassen. Die Befürchtung, Klüger könnte altersmilde geworden sein, bewahrheitet sich freilich nicht. Das perfide „A-3537“ war ihr stets ein Mal der Erinnerung. Die Entfernung der Nummer sollte ein Ausdruck dafür sein, dass mit der empfundenen Überlebensschuld nun endlich Schluss sein könne. Schließlich wären ermordete Angehörige wie ihr Bruder inzwischen auch eines natürlichen Todes gestorben.

Doch ist der Versuch, die „ungelöste, unerlöste Vergangenheit“ endlich loszuwerden, zum Scheitern verurteilt. Woran liegt dies aber: An dem für sein Leben gezeichneten, hoffnungslos verletzlichen, paranoiden Individuum? Oder an einer Umwelt, die der dunklen Vergangenheit auf subtile Weise ähnlicher ist, als sie es wahrhaben möchte? Es wird wohl ein nicht zu trennendes Gemisch aus beidem sein. Sicher ist, dass jene Erlebnisse und Anekdoten, die Klüger vorlegt, ihre Ansicht bestätigen, dass der Antisemitismus in der Misogynie eine Schwester besitzt: „Ich werde oft gerügt, weil ich über die Diskriminierung gegen Juden und gegen Frauen in einem Atemzug rede, aber so hab ich''s erlebt.“

„unterwegs verloren“, diese große grimmige Lebensbilanz, ist voll von Geschichten von Kränkungen und Verletzungen. Entsprechend schwankt man bei der Lektüre fortwährend zwischen Empörung und Fassungslosigkeit, als männlicher Leser manchmal auch zwischen Unglauben und Scham. Da ist etwa die Geschichte, wie Ruth Klüger bei ihrer Gastprofessur in ihrer Geburtstadt Wien 2003, wo sie auf ihre alten Tage noch „ein bissel dazugehören“ wollte, von ihren österreichischen Kollegen völlig ignoriert wurde. Oder die Geschichte, wie seinerzeit Siegfried Unseld das Manuskript von „weiter leben“, heute längst ein Klassiker der Holocaust-Literatur, als „nicht literarisch genug" abgelehnt hat – und ihr später ein Suhrkamp-Verlagsleiter stolz das „wahrste, beste, eigentliche Erlebnisbuch eines Kindes, das den Holocaust überlebt hat“, präsentierte, die erlogenen „Bruchstücke“ Benjamin Wilkomirskis.

Dabei war Ruth Klügers Nachkriegsleben in den USA von außen gesehen die glänzende Karriere einer Germanistin, mit Stationen in Virginia, Princeton und Irvine – all das lange vor „weiter leben“. Wie wenig aber innere und äußere Biografie übereinstimmen, zeigen gerade Klügers Jahre als erste Ordinaria an der Elite-Uni Princeton in den achtziger Jahren: Was im Lebenslauf als Höhepunkt erscheint, erscheint ihr als „der größte Fehler meiner akademischen Karriere“, sollte sie doch dem dort herrschenden Herrenclub einzig als Quotenfrau und „aufmerksames Publikum“ dienen. Klügers Weg zur Germanistik – nach ihrer unglücklichen Ehe als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen – war steinig. Und zwar nicht nur weil Frauen auch im amerikanischen Uni-Betrieb lange Zeit nur die Rolle eines „Kulturdüngers“ zukam. Oder weil die Germanistik auch in den USA von (auch jüdischen) „Verdrängungskünstlern“ dominiert wurde und Kollegen in abendlicher Runde erstaunt über ihre jüdische Herkunft waren.

Sondern weil ihre Entscheidung für dieses Fach in den sechziger Jahren vor allem von dem Wunsch bestimmt war, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen. Die Germanistik war ihr eine „Droge“, weshalb sie, scheinbar paradox, um ihre Themen zunächst einen Bogen machen musste: Ehe sie ihre großen Essays über Kleist, Holocaust-Literatur oder die Literatur von und über Frauen schreiben konnte, promovierte sie über barocke Epigramme; ihre Shoa-Erlebnisse fanden lange nur in Gedichten Ausdruck.

Gewohnt unversöhnlich und mit bissigem Humor schreibt Klüger in dem ihr eigenen wundervollen Wienerischen Duktus. Und präsentiert sich zugleich offen, ungeschützt, schont allerdings auch ihre Nächsten nicht: nicht ehemalige Freunde wie Martin Walser, dem sie nach „Tod eines Kritikers“ in einem offenen Brief die Freundschaft kündigte. Nicht ihren Ex-Mann, den Historiker Werner T. Angress, der sie nur als „Krückstock für seine Karriere“ betrachtet habe. Nicht ihre Söhne: „Irgendwann kapierte ich, dass meine beiden Söhne nicht viel mit mir zu schaffen haben wollten“. Familiären Ärger wird ihr das wohl nicht einbringen: Haben ihre in den USA lebenden Söhne doch offenbar schon „weiter leben“ nicht gelesen.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 240 S., 19,90 €.

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