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Verbrecher JAGD: Der Tod ist nicht messbar

Kolja Mensing über einen italienischen Krimischriftsteller mit Knasterfahrung

Massimo Carlotto ist ein italienischer Schriftsteller mit einem bemerkenswerten Lebenslauf. In den siebziger Jahren war er Mitglied der linksradikalen Gruppe „Lotta Continua“. Als er in Padua als Zeuge in einen Mordfall verwickelt wurde, wurde ihm seine politische Einstellung zum Verhängnis. Obwohl es keine Beweise gegen ihn gab, verurteilte ein Gericht den Studenten und vermeintlichen Staatsfeind Nummer eins kurzerhand zu 18 Jahren Haft. Carlotto floh aus dem Gefängnis. Er setzte sich nach Südamerika ab, wurde gefasst und nach Italien ausgeliefert und kam dort erneut in Haft, bis das skandalöse Urteil im Jahr 1993 doch noch aufgehoben wurde. Damals begann Massimo Carlotto zu schreiben, Krimis, die von Mal zu Mal bitterer und besser werden. Jetzt ist sein neuer Roman auf Deutsch erschienen: „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ (Aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Tropen-Verlag, Stuttgart 2008. 188 Seiten, 18,90 €).

Der Weinhändler Silvano Contin verliert seine Frau und seinen Sohn. Zwei maskierte Männer nehmen sie nach einem missglückten Überfall auf ein Juweliergeschäft als Geiseln, um sie dann vor den Augen der Polizei kaltblütig zu erschießen. Einer der beiden Täter kann mit der Beute entkommen, der andere wird verhaftet. Er heißt Raffaello Beggiato und gibt an, dass sein Komplize die tödlichen Schüsse abgegeben habe. Weil er den Namen des anderen nicht preisgeben will, wird er wegen „schwerem Raub, Entführung und Doppelmord“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünfzehn Jahre später erkrankt Beggiato im Gefängnis unheilbar an Krebs. Er reicht ein Gnadengesuch ein, um nicht in seiner Zelle sterben zu müssen. Als Angehöriger der Opfer muss Silvano Contin zu dem Fall Stellung nehmen. Damit ist der Augenblick gekommen, auf den er lange gewartet hat. Endlich hat er ein Druckmittel in der Hand, um Beggiato den Namen des Mittäters und wahren Mörders zu entlocken.

Mit kalten, klaren Worten erzählt Massimo Carlotto die Geschichte eines erbarmungslosen Rachefeldzugs. „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ ist ein Kriminalroman von geradezu alttestamentarischer Wucht – und darüber hinaus ein verstörend hellsichtiger Roman über die Macht der Normalität, mit der Menschen sich über die Tragödie ihres Daseins hinwegtäuschen. Selbst das Gefängnis stellt keine Ausnahme dar. Carlotto beschreibt – deutlich spürbar aus eigener Erfahrung –, wie der „Lebenslängliche“ Beggiato sich über die endlosen Nächte rettet, indem er sich immer wieder den starren Ablauf von Wecken und Frühstück, Putzdienst, Hofgang und Einschluss vor Augen führt und sich auf den langen Fluren regelmäßig über den aktuellen Stand der Schwarzmarktpreise informiert, so wie andere am Wochenanfang in den Werbeprospekten der Lebensmitteldiscounter blättern: „Zwei Stangen Marlboro für eine nette Dosis H“. Silvano Contin dagegen schafft sich sein Gefängnis selbst. Er bekämpft den Schmerz über den Verlust seiner Frau und seines Sohnes mit einem zutiefst banalen Leben, „restlos monoton und abwechslungslos“. Er gibt seinen Weinladen auf und nimmt eine ambitionslose Arbeit in einem „Absatz-Blitz“ in einem Einkaufszentrum in der Vorstadt an, und den Feierabend verbringt er mit Single-Mahlzeiten aus der Tiefkühltruhe und Quiz-Shows im Fernsehen: „Das Problem bestand darin, eine Normalität vorzutäuschen und den Schrei zurückzuhalten, der immer häufiger ins Freie drängte.“

Erst als Contin feststellen muss, dass sich Beggiatos Komplize mit Hilfe der Beute aus dem Raubüberfall in einer ähnlichen Kulisse eingerichtet hat, in einem Einfamilienhaus mit „gepflegtem Rasen“, gemauertem Gartengrill und einem Holzschuppen „im Alpenstil“, gerät das neurotische Gleichgewicht für kurze Zeit ins Wanken. Massimo Carlotto lässt seinen Roman in einem Massaker enden – allerdings nur, um die blutbefleckten Fassaden des Alltags zuletzt umso stabiler wieder aufzubauen. Das Leben macht immer weiter, in den Siedlungen am Stadtrand, auf der Ladenstraße der Shopping-Mall und in den Zellen der Justizvollzugsanstalten. Das ist die grausame Wahrheit dieses Buches. Schrei, wenn du kannst.

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