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Verbrecherjagd: Demagoge im weißen Anzug

Kolja Mensing kennt die Vorgeschichte des Mordes an Pim Fortuyn. Tim Ross porträtiert die kaputte holländische Gesellschaft.

Ein Teil der Geschichte ist natürlich frei erfunden. Zum Beispiel die Sache mit den Schimpansen. Im Jahre 1998 brechen Anke und ihr Freund Peter in ein Labor in der Nähe von Rotterdam ein, in dem Experimente an Primaten durchgeführt werden. Eigentlich wollen sie nur ein paar Affen befreien, doch dann kommt es zu einem Schusswechsel. Peter tötet einen Wachmann, kann allerdings entkommen, während Anke festgenommen wird. Sie verbringt drei Jahre im Gefängnis. Nach ihrer Entlassung im Herbst 2001 will sie ein neues Leben anfangen. Doch kaum hat sie sich in einer Wohnung in Den Haag eingerichtet, besucht sie ein Beamter des niederländischen Verfassungsschutzes und spielt ihr den Mitschnitt eines Telefongesprächs vor. „Den machen wir tot“, sagt jemand. Es geht um die Vorbereitung eines Attentates. Anke erkennt Peters Stimme.

Damit endet die Fiktion zunächst: Das Opfer des geplanten Anschlags ist der rechtspopulistische Politiker Pim Fortuyn, der am 6. Mai 2002 erschossen wurde. Der niederländische Schriftsteller Tomas Ross erzählt in seinem Kriminalroman „Der Tod des Kandidaten“ die Vorgeschichte dieses Mordes. (Aus dem Niederländischen von Matthias Müller. DTV, München 2009. 316 S., 9,95 €) Das Ergebnis ist ein politischer Thriller, der der Wirklichkeit stellenweise bedrohlich nahekommt. Während Anke auf Drängen des Geheimdienstes Kontakt zu Peter aufnimmt, blendet Ross immer wieder Szenen aus dem Wahlkampf im Frühjahr 2002 ein und verfolgt, wie Pim Fortuyn mit jedem Auftritt weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Seine Parolen kommen nicht nur am Stammtisch gut an. Auch das vermeintlich liberale Bürgertum der Niederlande jubelt, wenn der „Rassist und Demagoge“ im weißen Anzug samt orangefarbenem Einstecktuch gegen „Subventionssozialismus“ und muslimische Einwanderer hetzt: „Das Boot ist voll.“

„Der Tod des Kandidaten“ ist also nicht nur ein Krimi, sondern zeichnet in erster Linie das Porträt einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Auch die Analyse liefert er gleich mit: Der niederländische Protestantismus mit seiner Vorbestimmungslehre hat im 21. Jahrhundert seine Bindungskraft verloren, und lange unterdrückte Ressentiments brechen hervor. Ross beschreibt das aus der Perspektive seiner Hauptfigur Anke, die aus einer streng religiösen Familie kommt. Zuerst lässt sie sich auf einen Flirt mit militanten Aktivisten ein, und als sie aus dem Gefängnis kommt, muss sie erleben, dass Pim Fortuyn nur ein Symptom für einen radikalen Stimmungswandel ist. Rassismus, Sexismus und Intoleranz sind an der Tagesordnung, so dass ein charmanter Rechtsausleger mit ein paar politischen Pointen leicht Punkte machen kann.

Pim Fortuyn ist sein Zynismus zuletzt bekanntlich zum Verhängnis geworden. Nachdem er sich mit den Worten „Wählt mich, dann dürft ihr Pelzmäntel tragen“ für den Erhalt der Nerzzucht in den Niederlanden ausgesprochen hatte, wurde er von dem radikalen Tierschützer Volkert van der Graaf erschossen. Auch der Attentäter kommt in diesem Roman vor, doch Ross belässt es nicht bei der offiziellen Version vom ideologisch motivierten Einzeltäter. Er macht van der Graaf in „Der Tod des Kandidaten“ und seine fiktiven Protagonisten Anke und Peter zum Teil einer Intrige des Geheimdienstes, an deren Ende ein unbequemer Politiker mit Billigung der Sicherheitsbehörden erschossen wird: „Der umjubelte Fortuyn ist tot, und das Volk hat seinen Mörder.“

Wenn man lange genug googelt, findet man im Internet natürlich ein paar Indizien, die in Richtung eines Komplotts weisen. Auch diese Form der Paranoia ist ein Symptom der gesellschaftlichen Krise, und mittlerweile hat sie ihren Weg in die Buchhandlungen und Bestsellerlisten gefunden. Seit den Morden an Pim Fortuyn und dem Islam-kritischen Filmemacher Theo van Gogh erscheinen immer mehr Kriminalromane, in denen Autoren wie Tomas Ross oder sein extrem erfolgreicher Kollege Charles den Tex („Die Zelle“) die Niederlande zum Schauplatz politischer Verschwörungen machen. Das kleine Land, das in Europa lange als Modell eines fortschrittlichen Sozialstaats galt, dürfte das Vertrauen in sich selbst endgültig verloren haben.

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