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Arbeitervereinigungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Vereint zum Klassenkampf

Jürgen Schmidt sucht die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in der Zeit vor dem Kaiserreich.

Was einmal Arbeiterklasse hieß und einen bedeutenden Teil der Gesellschaft ausmachte, ist mehr und mehr im Schwinden begriffen. Schon vollständig geschwunden, so scheint es, ist die Kenntnis ihrer Geschichte. Beinahe fremdartig wirkt das Buch von Jürgen Schmidt über „Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830-1870“. Es ist dies der abschließende Band der vierbändigen Darstellung der Arbeiterbewegung, die Jürgen Kocka selbst bereits 1990 auf den Weg gebracht hat.

Gerade diese Zeitspanne zwischen 1830 und 1870, dem Zeitpunkt der Reichsgründung, ist für Deutschland die Zeit vor der umfassenden Industrialisierung; insofern ist von einer Arbeiterbewegung im Werden zu sprechen. Allerdings fallen weit fortwirkende Ereignisse in den untersuchten Zeitraum: die – gescheiterte – Revolution von 1848/49 sowie die Gründung der organisierten Arbeiterbewegung um 1863. Schmidt fragt in seinem Buch insbesondere nach den Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten, die den Akteuren offenstanden, und verwendet einen „historisch mehrdimensionalen Begriff der Bürgergesellschaft“. Dies meint eine „am staatsbürgerlichen Engagement orientierte Praxis zur (Um-)Gestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“.

Die Zäsur der Revolution 1848/49

Die beschränkte sich in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertmitte auf Bruderschaften, Vereine und dergleichen. Im Mittelpunkt stand die Verarmung breiter Schichten, die nicht zuletzt zu massenhafter Auswanderung in die Neue Welt führte. Es kam zu lokalen Hungeraufständen, an denen Ungelernte, Tagelöhner, aber auch verarmte Handwerker beteiligt waren. Nicht zuletzt die Frauen, die „als Initiatorinnen und Übermittlerinnen eine zentrale Rolle bei den Protesten“ spielten. Revolutionär „im Sinne eines Umsturzes des politischen Systems“ waren die Hungerunruhen indessen nicht: „Vielmehr erhoffte man sich von der Obrigkeit Unterstützung und Beistand.“

Die „Pauperismus-Krise des Vormärz“ (Schmidt) mündete schließlich in die Revolution von 1848/49. Deren heutige Wahrnehmung wird geprägt vom „Kommunistischen Manifest“. Doch die Situation in den deutschen Landen war bei Weitem nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Nicht zuletzt blieb die Masse der einfachen Soldaten, worauf bereits Christopher Clark für Preußen hingewiesen hat, ihren (adligen) Offizieren gegenüber loyal. Schmidt lenkt den Blick in Nahsicht auf die Arbeitervereine, unter denen der Marx-Engels’sche „Bund der Kommunisten“ einer unter vielen war, und auf die Organisationsbemühungen, die nach dem Scheitern der Revolution fortwirkten.

Schutz beim starken Staat

Die Bildung des Bismarck’schen Nationalstaats 1870/71, der mit der massiven Industrialisierung zusammenfiel, trieb die politischen Gegensätze aufs Äußerste. Wie nie zuvor konnte und musste man von gesellschaftlichen Klassen sprechen und seitens der Sozialdemokratie von einer „klassenkämpferischen Veränderung“, resümiert Schmidt: „Dieser Klassenkampfansatz blieb Weltdeutung und bloße Rhetorik zugleich, dennoch löste ein solches Szenario im Bürgertum – besonders nach den Erfahrungen von 1848/49 – Ängste und Bedrohungsgefühle aus; man suchte Schutz und Unterstützung in einem starken Staat.“

Nach all den Jahrzehnten der Dominanz der SPD als Partei der Arbeiter ist in Vergessenheit geraten, dass es um 1860 sehr wohl andere Formen der Selbstorganisation gab. Schmidt lässt den „Gewerkvereinen“, sei’s liberaler, sei’s konfessionell-katholischer Ausrichtung, Gerechtigkeit widerfahren, auch wenn beide Richtungen in den sich ausprägenden, tiefgreifenden Klassengegensätzen der Bismarck-Zeit gegenüber der sich immer besser organisierenden Sozialdemokratie keinerlei Alternative mehr bieten konnten. Die Bismarck-Zeit, so Schmidt, „war begleitet von einem Prozess gegenseitiger gesellschaftlicher Ausgrenzung und Abschließung, der politisch abgegrenzte Lager hervorbrachte“. Es war ein langwieriger Prozess, der zur Selbstorganisation der im Werden begriffenen Arbeiterschaft führte. Jürgen Schmidt stellt ihn in bewundernswerter Detailgenauigkeit dar, notwendigerweise, aber auch ganz bewusst auf das Innenleben der unterschiedlichen Vereinigungen fokussiert.

Jürgen Schmidt: Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018. 656 S. m. zahlr. Abb., 68 €.

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