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Viola Roggenkamp: Mütterlicher Makel, väterliche Last

Warum hat ihr Vater sie im Stich gelassen? Deutsch-jüdische Geschichte in der Doppelbelichtung: Viola Roggenkamps Roman "Die Frau im Turm".

Bewegungslos verrinnende Zeit. Abgelebt, bevor sie verstrichen ist. „Die Cosel steht am Fenster. Die Cosel stand am Fenster. Die Cosel hat am Fenster gestanden. Die Cosel sieht sich am Fenster stehen, wie sie am Fenster gestanden haben wird.“ Fast ein halbes Jahrhundert fristet Anna Constantia Reichsgräfin von Cosel (1680–1765) ihr Dasein hinter den Festungsmauern von Stolpen, nachdem der sächsische Kurfürst und polnische König sie aus Gründen politischer Opportunität von ihrem Platz als künftige Königin verstoßen hat.

Die berühmte Mätresse Augusts des Starken, die sich in ihrer großen Zeit viele Neider zum Feind machte, beschäftigt bis heute die Fantasie. Nun hat die schöne, lebenslustige Frau mit der hohen Stirn, den schweren Lidern und dem unnachgiebigen Ausdruck auch Viola Roggenkamp umgetrieben. Doch anders als in den Kostümfilmen, die „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ feiern, geht es in ihrem neuen Roman „Die Frau im Turm“ um die vergessene Cosel, die ausgegrenzte und sich in ihrer Rechtlosigkeit mit den Juden verwandt fühlende Gefangene. Einst begehrt und umgarnt, gibt es nur eine Frage, die sie in der Festungshaft am Leben erhält: Warum?

Warum, fragt sich auch die 33-jährige Masia aus Hamburg. Warum fühlt sie sich anders als die sie umgebenden Deutschen? Warum hat ihr Vater, Max Bleiberg, sie alleine gelassen und den für Juden offenbar komfortableren Aufenthaltsort DDR gewählt? Warum hat er sie vergessen wie August der Starke seine Cosel, die ihm doch hellsichtige politische Beraterin war?

Der Regent, der die halb bürgerliche Anna Constantia von Hoym einem sächsischen Beamten ausspannte, sie auf seine Feldzüge mitschleppte, wo sie die drei gemeinsamen Kinder vergaß („Mutter sein wollte ich nicht“), hatte Angst vor einer Frau, die ihm intellektuell überlegen war und seine Schwächen kannte. All das rekapituliert die eingesperrte Cosel, deren Hoffnungen schwinden, als August 1733 stirbt, ohne sie zu rehabilitieren.

Masia dagegen, die unerlöste deutsche Jüdin, hat sich mit Masius vom Bleiberg eine Hoffnungsfigur geschaffen, einen fiktiven Treuhänder ihrer Existenz. 1999 zieht sie mit ihrem einzigen Freund, dem in seiner Korpulenz dem sächsischen Kurfürst nachempfundenen Regisseur August, nach Dresden, der dort einen Film über die Cosel drehen will. Das mit dem „mütterlichen Makel“ deutscher Herkunft belastete „Judenmädchen“ begibt sich auf Vatersuche.

In wechselnden Szenen zwischen der Dresdner Gegenwart von 1999 und er sächsischen Festung des 18. Jahrhunderts, wo die Cosel sich immer mehr dem Judentum zuwendet, der Schriftgelehrsamkeit und schließlich homöopathischen Studien, verknüpft Viola Roggenkamp die Stränge des deutsch-jüdischen Dramas. Relativ sparsam im Personal, aber ausgreifend in Bezug auf die Deutung, verschmilzt sie historisch Verbürgtes mit kulturwissenschaftlich Spekulativem, die autobiografische „Halbheitserfahrung“ – Roggenkamp stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die sie in ihrem Erfolgsroman „Familienleben“ verewigt hat – mit rein Erfundenem.

Der Hass gegen die Frauen und die Juden, die Hexen und die jüdischen Geldverleiher, von denen die Fürsten der damaligen Zeit abhängig sind, um ihre Kriege und ihre Pracht zu finanzieren, speist sich im Roman aus männlichem Minderwertigkeitsgefühl, sozialer Neidkultur und Unterwürfigkeitsgesten seitens der Unterdrückten.

Das zieht ewige Demütigung beider nach sich, deshalb bleibt die Cosel auch nach Augusts Tod ohne Prozess in Haft. Dennoch fühlt sich die adlige Frau dem Juden Schieber, der sie den Talmud lehrt, überlegen. Als dieser als Aufrührer aufgehängt werden soll, denkt sie nicht daran, ihm zu helfen: Das Leid über ihr nicht gelebtes Leben als Königin ist anderer Art als das des gescheiterten jüdischen Missionars. So besteht ihre Freiheit am Ende ihres Lebens darin, freiwillig in den runden Turm von Stolpen zu wechseln, wo sie 1765 stirbt. Ausgerechnet ihre treue Dienerin Lenchen verbrennt ihre wichtigsten Hinterlassenschaften, ihr „jüdisches“ Vermächtnis.

Masia hat im Dresden der Jahrtausendwende immerhin noch Gelegenheit, ihren Vater nach dem Warum zu fragen. Die Christen glauben, die Juden fragen, wusste schon die Cosel, und Masia ist ein „Überbleibsel, das keine Ruhe gibt“. Max, ihr Vater, bleibt das von den Eltern in Deutschland verlassene Kind mit einem Komplex aus Angst und Schuld; Jossl Gift, dessen Geschichte ein bisschen willkürlich das der Cosel und der Bleibergs streift, ist ein tatsächlich „Überlebender“. So gibt es kein einheitliches „jüdisches Schicksal“: Jede Wiederholung legt ihre eigene Spur.

Viola Roggenkamp: Die Frau im Turm.

Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 425 Seiten, 19,95 €.

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