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Große Maschinen, große Schriftsteller: Was Günter Grass mit seiner Olivetti noch kann, fällt den Jüngeren mit ihren Computern zunehmend schwer. Die taugen einfach nicht für Monologe.

© dpa/pa

Literaturdebatte: Der Roman ist tot ...

... ist ein Satz, den man selbst auf Facebook selten liest. Dabei zehrt das Netz an der Substanz der Literatur, wie wir sie kennen. Ein Zwischenruf in Erzählform.

Als ich 19 war, ging ich unter die Schriftsteller. Das heißt nicht, dass ich selbst zu einem wurde. Sie umgaben mich nur. Ihre Gespräche über Plotstrukturen, die Glaubhaftigkeit bestimmter Charaktere, die Relevanz von Themen und Figuren, nicht zuletzt: über ihre Ambitionen im deutschen Literaturbetrieb wurden zu der Matrix, in der mein erwachsenes Ich sich orientieren lernte. Ich selbst wollte nie Autor werden. Ich hatte mich für den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ beworben, weil in der Infobroschüre davon die Rede war, man wolle hier, an der Uni Hildesheim, neben Schriftstellern auch „sprachgewaltige Kulturjournalisten“ ausbilden.

Von den Kommilitonen lernte ich die Faszination für Bücher im Allgemeinen, Romane im Besonderen. In meinem zweiten Semester organisierten sie ein Literaturfestival. Da saßen die, die Schriftsteller werden wollten, und himmelten die an, die es bereits waren: Die Heldinnen und Helden hießen damals Terézia Mora, Uwe Tellkamp und Andreas Maier, die gefeierten Werke „Alle Tage“, „Der Eisvogel“ oder „Wäldchestag“. Es war Sommer, die Stimmung gut. „Harmonie als letztmögliche und schönste Form der Subversion“ glaubte die „Zeit“ hier erkannt zu haben, wo alle im Grunde das Gleiche wollten: Bücher – schreiben, lesen, verlegen.

Das alles ist nun bald sieben Jahre her. Im Frühsommer 2011 traf man sich wieder in Hildesheim, zur mittlerweile dritten Auflage des „Prosanova“-Festivals. Die Heldinnen und Helden gab es immer noch, sie hießen Clemens Setz, Rabea Edel oder Leif Randt. Allerdings waren ihre Wasserglaslesungen nur noch Teil einer viel größeren Inszenierung von Literatur. Da ritten Pferde in stillgelegte Militärhallen, flackerten Neonröhren zum Rhythmus eines Textes, ein Künstlerkollektiv zerhackte antiquarische Bücher. „Literatur, notfalls mit der Axt“, hatte „Zeit Online“ vorgefunden. Ich musste an den Satz „Wir sind des Baumes müde“ denken, jene Absage aus Gilles Deleuzes und Félix Guattaris in Deutschland bereits 1977 erschienenen „Rhizom“-Aufsatz an eine „arboreszente“ Wissens- und Lektürekultur, die – Werk für Werk und Art für Art in Isolation – in Tiefen wurzelt und in Höhen ragt.

Das lag auch daran, dass ich die Kommilitonen von früher, die inzwischen Schriftsteller, Lektoren, gescheiterte Schriftsteller oder ganz was Anderes geworden waren, zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile meistens via Facebook erlebte. Ihre nunmehr geschriebenen Dialoge hatten sich, zumindest hier, verändert: Sie drehten sich nicht mehr um Plotstrukturen, die Glaubhaftigkeit bestimmter Charaktere, die Relevanz von Themen und Figuren. Eigentlich drehten sie sich um kaum noch etwas, was unmittelbar mit Literatur und dem Literaturbetrieb zu tun hatte. Es ging um Alltag und politische Ereignisse, um Beobachtungen und Sprachspiele, um Bedeutsames und Bedeutungsloses. Ein bisschen schien es, als ob sie hier, wo sich geschriebene Kommunikation, genau wie von Deleuze und Guattari lange vor dem Netzzeitalter ersonnen, in rhizomatischen Verästelungen fortpflanzte, befreit aufschreiben könnten. Die Schreiber, die lange gehemmt schienen durch den Metadiskurs, wie man denn nun die Krone des Baums Literaturbetrieb erklimmen könne, gebärdeten sich im sozialen Netzwerk als das, was sie sonst, indem sie es zu sehr sein wollten, selten waren: als Schriftsteller.

All das kommt mir unweigerlich in den Sinn, wenn nun, zwischen Buchmesseständen, wieder diskutiert wird. Darüber, wie er denn nun zu sein habe, der gute deutsche Gegenwartsroman. Ob er in der DDR spielen soll oder gerade nicht, ob er historische Themen oder Gegenwart behandeln, Härten des Alltags abbilden oder ihnen ein sprachlich durchwirktes Anderes entgegensetzen, erfunden oder erlebt sein soll. Und natürlich: wie man ihn am besten verkauft – als Buch oder E-Book, als Buch mit E-Book-Option oder umgekehrt. Mit Blick auf die, die – obschon genuines Literaturpublikum – immer mehr abseits der großen Form lesen und publizieren, stellen sich aber doch ganz andere, viel grundsätzlichere Fragen: Sollten sich Schreibende und Lesende nicht zuallererst der Tatsache stellen, dass das gängige Schreibgerät dieser Tage, der vernetzte Rechner, zu allem geeignet ist – aber nicht, um einen Roman darauf zu schreiben? Erzählungen entstammen der Zeit der Feder, die großen Romane der literarischen Moderne sind Produkte der Schreibmaschine. Günter Grass lässt bis heute, wie er 2010 in einem „Spiegel“-Interview bekundete, Handgeschriebenes von einer Sekretärin auf einer Olivetti-Schreibmaschine abtippen, um es noch einmal zu überarbeiten, noch einmal tippen zu lassen etc ... Dass ein solcher Groß- und Langschreiber die „Mängel des elektronischen Verfahrens bereits beim Erstellen des Manu-Skripts“ (Sic!) offenkundig findet, ist durchaus verständlich. Mit einem Gerät, aus dem mit jeder eingegebenen Dateneinheit eine Vielzahl anderer auf seinen Benutzer einströmen, nur zu produzieren, ohne zugleich zu kommunizieren, das ist vor allem eins: absurd.

Mit etwas jugendlichem Leichtsinn ließe sich da glatt Folgendes sagen: Wo das Netzwerk regiert, kann es eigentlich keine Werke mehr geben. Sie sind aufgelöst in kommunikativer Interaktion, in Rede und Gegenrede und einem beständigen Zusammenfallen von Produktion und Rezeption. Leichter wird unser Leben dadurch nicht, lediglich ehrlicher: Wo die Valuierungsmechanismen des Kultur- und Literaturbetriebs, wo die Adelung durch Veröffentlichung, nicht mehr greift, braucht es zum Erkennen einer ästhetischen Leistung tatsächlich ästhetisches Gespür, oder vielleicht eher: eine Ausbildung des Sehens und Lesens, einen lebendigen Abgleich des soeben Vorliegenden mit an anderer Lektüre gebildeten Parametern.

Für den Literaturbetrieb und seine Jünger ist eine solche Sphäre, in der man nichts verkaufen, verreißen oder mit großer Geste für „wichtig“ oder „falsch“ erklären kann, natürlich unerträglich. Renommierten Autoren wie etwa dem just gekürten Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, Wolfgang Herrndorf, mag man ins Netz folgen. Mit seinem autobiografischen Notizblog „Arbeit und Struktur“ hat der Todkranke dort sogar die Literaturkritik erreicht. Doch im Virtuellen etwas entdecken, das nicht die Ableitung des Bekannten ist? Das wird schwierig, wenn man in den Einheiten des analogen Literaturbetriebs denkt. Dass das Facebook-Alter-Ego Dana Buchzik der jungen Autorin Sophia Mandelbaum ihre Freunde wissen lässt, der Hildesheimer Winter habe sie, indem er sie über Wasser laufen ließ, heilig gesprochen, evoziert ebenso grandios das Bild einer geschlossenen Eisdecke in der deutschen Provinz mit deutschen Provinzmenschen darauf, wie es aus vielerlei Gründen nicht zu einer Buchveröffentlichung taugt. Dass auf ihrem Blog statt eines „Weiter“-Buttons ein Knopf mit der Aufschrift „heller“ auf die älteren Einträge verweist, ist auf eine ähnliche Art pathossatt, schön und, im Gegensatz etwa zu achtlos gesprochener Sprache, erkennbar gestaltet – und dennoch ebenso wenig für gedruckte Veröffentlichungen zu gebrauchen. Zu häufig sind in diese Textsysteme auch Bilder oder Videoschnipsel integriert, zu häufig trägt ein Einfall – auch aufgrund der omnipräsenten Bezüge zum Zeitgeschehen – nur für einen bestimmten, kollektiv erlebten Augenblick.

Ist, was von Vornherein unewig ist, deshalb weniger wert? Man könnte, mit kleinen rhetorischen Dreingaben des ewigen Theodor W. Adorno, den Spieß auch umdrehen: Erst da, könnte man sagen, wo eine literarische Form im exakt gleichen Medium platziert ist wie eine nichtliterarische, wird sie als solche wirkmächtig, transzendiert und befreit sich aus dem Verwertungskontext, in dem sie zwischen Buchdeckel gepresst allein zur kulturindustriellen Verwesung bereit stünde. Ja, erst dort, wo das Nichtidentische in die gleichförmigen Umgebungen der sozialen Netzwerke und Messagingdienste einbricht, wird Literatur zu einem bedeutsamen kulturellen Experiment. Dass die flüchtigen Netzwerke sie dabei dahingehend beugen, dass sie unversehens kurzlebig wird, ist ein mindestens so interessanter Konflikt wie der Streit darüber, ob ein guter Roman lieber in einer WG-Küche oder dem „Dritten Reich“ spielen sollte.

Man könnte sich indes auch langsam einmal zurückpfeifen – was ich hiermit tue: Natürlich erschöpfen Nachrichten von 450 Zeichen Länge nicht die Möglichkeiten von Literatur. Natürlich privilegieren sie Lyriker und Aphoristiker und benachteiligen Epiker. Natürlich gibt es weiterhin Erzählungen, die von Autor und Leser gleichermaßen Raum, Zeit, sogar Mühe beanspruchen. Allein: Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit für die Ressource Text brauchen sie immer bessere Argumente dafür, dass sich jemand auf sie einlässt.

Ist das nun gut oder schlecht? Vielleicht ist es einfach so: dass ein bestimmter Ort des Lesens mit seinen Gesetzen bestimmte Formen des Publizierens privilegiert. Das ist vielleicht das Ende einer bestimmten Form literarischer Kultur, nicht aber das Ende der Literaturgeschichte. Den Eintrag „Der Roman ist tot“ habe ich bei Facebook noch auf keiner Pinnwand gefunden. Zum Glück.

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