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Autorin Charlotte Gneuss fotografiert von Alena Schmick im Auftrag von S. Fischer Verlag Charlotte Gneuß

© Alena Schmick/Alena Schmick

Literaturdebatte: Kesseln für den Deutschen Buchpreis

Alle sind sich einig: Natürlich darf Charlotte Gneuß als 1992 im Westen geborene über die DDR schreiben. Warum aber wurde Ingo Schulzes „Mängelliste“ an die Buchpreisjury weitergereicht?

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Es kesselt ein bisschen im Literaturbetrieb. An diesem Dienstag wird verkündet, wer es von den 20 Titeln auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis auf die Shortlist geschafft hat. Aber alle reden nur von Charlotte Gneuß’ DDR-, Dresden-, und Siebzigerjahre-Roman „Gittersee“. Nicht weil dieser als Top-Favorit gehandelt wird, sondern weil Gneuß 1992 in Ludwigsburg geboren wurde und die DDR nicht aus eigener Anschauung kennt.

Der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze hatte für Gneuß und den S. Fischer Verlag eine Mängelliste erstellt, damit Fehler in der DDR-Darstellung für eine eventuelle zweite Auflage korrigiert werden können.

Nur wurde diese Mängelliste auch der Buchpreisjury zugespielt, was der „FAZ“ einen großen Auftritt wert war: „Darf sie das?“, hebt der am Freitag erschienene Text an, nämlich als 30-jährige Autorin aus Ludwigsburg über die Siebziger in Dresden schreiben; ein „westdeutsches Debüt“, wie es in dem Text irritierend heißt. Sie darf, so das Resümee, so überhaupt der Tenor der Literaturkritik, die sich dazu geäußert hat.

Wer sagt, dass sie das nicht darf?

Die Gegenmeinung fehlt, das große „Nein, sie darf nicht“, und so kreist diese innerdeutsche Pseudodebatte über kulturelle Aneignung um sich selbst: Alle sind sich einig.

Aufschlussreicher wäre, wer ein Interesse an diesem Durchstechen von Schulzes Mängelliste hatte? Wem sollte genützt, geschadet oder worauf aufmerksam gemacht werden? Sollte der Jury bedeutet werden, sie solle doch bitte ihre Arbeit besser machen?

Mit Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“ hat sie ein weiteres Debüt nominiert von einer Autorin, die 1989 geboren wurde, in Wismar zwar, aber eben die DDR auch nur aus Erzählungen kennt. („Berliner Debüt“?). Und mit Angelika Klüssendorfs „Risse“ steht eine Mogelpackung auf der Longlist: ein Erzählband, der schon 2004 veröffentlicht und nun mit einer aktuellen Rahmenerzählung versehen wurde. Hier jedoch stimmt die DDR-Authentizität.

Oder sollten die Chancen von Gneuß verringert werden? „Gittersee“ ist in aller Munde, selbst wenn es für die Shortlist nicht reicht: Besser hätte es nicht laufen können. Auch nicht für den Deutschen Buchpreis. Denn die erratische, gezielt an den großen Herbstbüchern vorbei getroffene Longlist-Auswahl hatte diesen Gneuß-Schulze-Auftrieb unbedingt nötig.

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