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Kultur: Literaturwerkstatt Berlin: In Grotewohls Garten

"Lieber ohne Schuh als ohne Buch" lautet ein isländischer Wahlspruch. Die Finnen sollen ganze Romane zum Frühstück verschlingen.

"Lieber ohne Schuh als ohne Buch" lautet ein isländischer Wahlspruch. Die Finnen sollen ganze Romane zum Frühstück verschlingen. Irakische Exildichter stimmen melodiöse, für abendländische Ohren bezaubernde Wehklagen über die ferne, unerreichbare Heimat an. Für russische Schwule in der Breschnew-Ära dagegen galt das Ideal der Geduld und des leisen Verrücktwerdens. Arnold Stadler, Katholik aus dem Hotzenwald, debattiert mit dem nordschwedischen Protestanten Olof Enquist über gemeinsame Provinzen des Schmerzes. Wenn beim novemberlichen Literaturwettbewerb Open Mike nach einer Viertelstunde der Küchenwecker schrillt, hat man gute Chancen, der Feuertaufe eines deutschsprachigen Autorentalents beigewohnt zu haben.

Das sind nur einige von unzähligen Momentaufnahmen, Begegnungen mit den Literaturen aus aller Herren Länder, die am Majakowskiring 46/48 stattfanden und -finden. Die Internationalität ihrer Veranstaltungen zeichnet die literaturWERKstatt besonders aus. Es dominiert die Wertschätzung der Originalsprachen. Sie sollen nicht durch Übersetzungen ins allgegenwärtige Flughafenenglisch planiert werden. Im Zweifelsfall geht es in Pankow eher akademisch und experimentell als gutbürgerlich, kunstgenüsslich zu. Man weiß eben, wo man sich befindet: im diskursfreudigen Osten. "Antifaschismus als Glaube, Theorie und Tat" oder "Über Destruktivität und Erzählbarkeit von Gewalt: Jugoslawien" sind zwei Beispiele ästhetisch-gesellschaftspolitischer Kolloquien, die hier ihren angestammten Platz haben.

Aber auch der Lyrik wird weit mehr als eine Bresche geschlagen: Wortkonzerte aus geformter, lyrischer Sprache haben sich zum festen Programmpunkt und Pubikumsmagneten entwickelt - zunächst als lauschige "Sommernacht der Lyrik" im wunderbaren hauseigenen Garten, seit letztem Jahr in melagomaner Ausformung als "Weltklang - Nacht der Poesie" am zugigen Potsdamer Platz. Das Internet-Angebot "lyrikline.org", ein einzigartiges Archiv von Dichterstimmen, wurde inzwischen von der UNO ausgezeichnet und der UNESCO als Projekt empfohlen. Ihren vorläufigen krönenden Abschluss erfuhr die erklärte Weltoffenheit des Hauses im Sommer 2000 mit dem Literatur Express Europa. 103 Autoren aus 43 Ländern fuhren sechs Wochen lang in einem babylonischen Zug durch Europa.

Christa Wolf und Co.

Was ist nach einem Jahr von den Reisekontakten geblieben, was hat sich entwickelt? Das wird in einem 800-Seiten-Band nachzulesen sein, den Eichborn Berlin zur Buchmesse herausbringt. Mittlerweile arbeitet die literaturWERKstatt mit Partnerorganisationen in mehr als 60 Ländern zusammen.

Seit 1991 residiert die Institution unter der Leitung des Thüringers Thomas Wohlfahrt in der ehemaligen Dienstvilla des ersten DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. 1980 war sie in den Besitz des DDR-Schriftstellerverbandes übergegangen, eine Geste staatlicher Dankbarkeit für das Wohlverhalten während der Biermann-Ausbürgerung. Zu Wendezeiten wurde das Haus von Autoren besetzt, die seine Öffnung für die Literatur und die Öffentlichkeit forderten. Eine Konzeption, der sich die Nachfolger bis heute verpflichtet fühlen. Nach zermürbenden Querelen um den Verbleib in Pankow (vergl. Tagesspiegel vom 15. 4. 2000), ganz abgesehen von der chronischen Geldnot, steht zum Jahreswechsel der Umzug in zentralere, wenn auch weniger romantische Gefilde an: in die Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg.

Vor den Ereignissen des 11. September war vorgesehen, in geselliger Runde das zehnjährige Jubiläum zu feiern. Doch nun ist alles anders - ein Empfang wurde abgesagt, das für den heutigen Sonnabend geplante Fest bislang noch nicht. Ab 15 Uhr lesen neben vielen anderen Christa Wolf, der literaturWERKstatt seit ihrer Gründung eng verbunden, die Lyriker Elke Erb, Michèle Métail aus Frankreich und Hakan Sandell aus Schweden. Open Mike-Preisträger wie Térezia Mora und Jochen Schmidt präsentieren Neues, die Japanerin Kazue Ikeda tanzt einen Text, den Christian Reiner spricht. Und so weiter. Es hätte ein fröhliches Fest werden können.

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