zum Hauptinhalt
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja

© picture alliance / Claudia Thaler/dpa/Claudia Thaler

Ljudmila Ulitzkajas Essayband „Die Erinnerung nicht vergessen“: Alles ist politisch

Das neueste Buch der russischen Schriftstellerin enthält autobiografische Erzählungen, Tagebuchaufzeichnungen und Essays und ist noch vor dem Krieg in der Ukraine entstanden.

Von Tobias Schwartz

Sie helfe ihrem „schwindenden Gedächtnis“ so gut sie kann, „unter anderem durch Aufzeichnungen wie diese“, schreibt Ljudmila Ulitzkaja in einem berührenden Memoir namens „Mein Körper und seine Narben“, in dem sie von einer Krebserkrankung berichtet, die einen operativen Eingriff zur Folge hatte und buchstäbliche Narben hinterließ.

Ich halte Berlin für die angenehmste Stadt Europas.“

Ljudmila Ulitzkaja

Dieser sehr persönliche, behutsam um Erkenntnis ringende Text ist in „Die Erinnerung nicht vergessen“ abgedruckt, dem neuen Buch der russischen Schriftstellerin, das autobiografische Erzählungen, Tagebuchaufzeichnungen und Essays enthält, die überwiegend vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine entstanden.

„Die Erinnerung nicht vergessen“ ist ein eigenartiges Buch, zunächst wirkt es sogar ein wenig disparat – hier lyrisch und assoziativ, dort Fakten sammelnd und kritisch analysierend. Eine Chronologie sucht man vergebens – die Erinnerung folgt eigenen Gesetzen. Im Titeltext aber stellt Ulitzkaja die entscheidende Frage, ob nämlich Erinnerung in unserer Gesellschaft notwendig sei – was heute nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint.

„Die Politik dringt immer in unser Leben ein, ob wir es wollen oder nicht.“

Es geht – wie in ihren großen Romanen „Das grüne Zelt“ oder „Jakobsleiter“ – darum, inwieweit sich das Private und das Politische berühren: „Die Politik dringt immer in unser Leben ein, ob wir es wollen oder nicht.“ Das ist der Faden, der ihr Werk durchzieht und auch hier das Ganze zusammenhält, selbst dann, wenn gerade Religiosität, Sexualität, Familie oder auch die „russische Seele“ verhandelt werden. Letztere hält die (gelernte) Biologin – sie arbeitete als Genetikerin, wovon sie ebenfalls berichtet – freilich für einen Mythos.

Im Falle Ulitzkajas, die 1943 geboren wurde, in einer jüdischen Familie in Moskau aufwuchs und zu den bekanntesten und streitbarsten Autorinnen Russlands zählt, sind das Private und das Politische kaum zu trennen. Gegenüber Putin und den Exzessen seiner faschistoiden Politik nahm sie nie ein Blatt vor den Mund.

Ihre Heimat verließ sie nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 – zuvor hatte sie eine Petition unterschrieben, die den Einmarsch russischer Truppen als „Schande“ bezeichnet. Ulitzkaja lebt – wie so viele Russen zuvor und gegenwärtig etwa auch ihr Schriftsteller-Kollege Vladimir Sorokin – seit einem Jahr im Berliner Exil. „Ich halte Berlin für die angenehmste Stadt Europas“, sagt sie in einem im Band enthaltenen Gespräch, wobei sie auch ihre Sehnsucht nach Moskau betont.

Um das kulturelle und politische Gedächtnis ist es in ihrer Heimat bekanntlich nicht gut bestellt, eine besondere Würdigung durch Ulitzkaja erfährt entsprechend die in Russland verbotene und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsorganisation Memorial. Da professionelle „Erinnerer“ wie sie das Land in Scharen verlassen, spitzt sich die Lage zu, denn an die Leerstelle tritt die Propaganda.

„Die Erinnerung nicht vergessen“, ein gelungenes Beispiel engagierter Literatur, hält dagegen. Es ist ein Buch voller Sorge, aber auch voller Kampfgeist. Stellt sich nur die Frage, ob es auch in Russland Leser finden wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false