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Trümmer der Kindheit. Chiara (Swamy Rotolo) beginnt zu ahnen, dass die Eltern ein Geheimnis vor ihr verbergen.

© Stayback Productions/Arte/Rai

Mafia-Drama „Chiara" im Kino: Familie und Verbrechen

In dem Coming-of-Age-Drama „Chiara“ muss sich eine 15-Jährige in der Welt der Mafia behaupten. Der Film lebt von seiner Hauptdarstellerin Swamy Rotolo.

Chiara rennt. Und bleibt doch auf der Stelle. Immer wieder sieht man sie im Fitnessstudio auf dem Laufband, ihren Frust betäuben. Die Eltern behandeln sie mit ihren 15 Jahren noch immer wie ein Kind. Doch da ist mehr: Sie verschweigen ihr auch etwas. Die heimlichen Gespräche, die dunklen Gestalten, die in ihrem Umfeld auftauchen. Chiara (Swamy Rotolo) ahnt: Ihr Vater Claudio (Claudio Rotolo) ist nicht nur der liebe Kerl, der sich mit ihr und ihren zwei Schwestern balgt.

Jonas Carpignanos „Chiara" spielt in Kalabrien, am südlichsten Zipfel Italiens. Die Mafia, genannt ’Ndrangheta, hat die Region im Griff, sie ist inzwischen sogar zur einflussreichsten Mafia des Landes aufgestiegen. Stärker noch als die sizilianische Cosa Nostra legt sie Wert auf Blutsverwandtschaft. Familie und Verbrechen: In der Welt, in die Chiara hineingeboren wurde, ist beides untrennbar miteinander verflochten.

Entsprechend inszeniert Carpignano seinen Film als Familiendrama mit Thriller-Elementen. Dem Regisseur, der auch das Drehbuch verfasst hat, ist der genaue Blick auf das Zwischenmenschliche jedoch wichtiger als die Krimi-Handlung. Man lernt die Figuren kennen, diese Nuancen verleihen „Chiara“ eine besondere Dringlichkeit.

Carpignano nimmt sich zunächst viel Zeit, um den Alltag seiner Protagonistin zu zeigen. Chiaras ältere Schwester (Grecia Rotolo) wird 18, die Familie feiert, es wird gesungen und getanzt. Die unruhige Handkamera von Tim Curtin nähert sich immer wieder den Figuren, als würde sie versuchen, hinter die Fassade zu blicken – wie Chiara selbst.

Anerkennung in einer patriarchalen Gesellschaft

In entscheidenden Momenten jedoch gibt Carpignano die dokumentarisch anmutende Bildsprache auf. Als Chiaras Vater das Fest überstürzt verlässt, sieht man ihn in Zeitlupe ins Auto steigen. Die Umgebungsgeräusche verschwimmen zu einem bedrohlichen Brummen. Und wieder übernimmt der Film Chiaras Blickwinkel. Mehr noch: Er macht ihre Überforderung spürbar. Sie merkt, dass ihr Leben aus den Fugen gerät. Noch in der gleichen Nacht explodiert das Auto vor dem Haus der Familie, Claudio taucht unter. Und Chiaras Kindheit ist endgültig vorbei.

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Carpignano legt Wert auf authentische Settings, jahrelang hat er in Gioia Tauro recherchiert. Schon seine ersten zwei Filme „Mediterranea“ und „Pio“ drehte der gebürtige New Yorker in der Hafenstadt. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht jeweils eine andere Facette des kalabrischen Alltags: die Einwanderung, das Leben der Roma-Gemeinschaft und nun, in „Chiara“, die organisierte Kriminalität. Einzelne Figuren lässt er von Film zu Film erneut auftauchen und baut so Brücken zwischen ihren Lebenswelten.

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Hauptdarstellerin Swamy Rotolo lernte Carpignano kennen, als sie gerade neun Jahre alt war. Er schrieb die Rolle für sie und besetzte die Figuren in Chiaras Umfeld mit Rotolos Verwandten. Diese Realitätsnähe verbindet ihn mit dem altlinken Filmemacher Ken Loach, genauso wie sein Interesse für soziokulturelle Zusammenhänge.

(In den Berliner Kinos Acud, b-ware!, Hackesche Höfe, Il Kino, Klick, Wolf (alle OmU). Ab 26. August bei Mubi)

Während der Dreharbeiten weihte Carpignano seine Darsteller:innen nur so weit ein, wie es dem Wissensstand ihrer Figuren entsprach. Wenn Chiara also auf eigene Faust den familiären Verstrickungen nachgeht, weiß Rotolo nicht, was ihre Figur finden wird. So bleibt die Kamera auch bei Chiaras Ermittlungen immer an dem Mädchen dran. Sie folgt ihr in die Halbwelt, die sich hinter den Trümmern ihrer Kindheit auftut. Ihre Situation ist moralisch verzwickt: Chiara kämpft um Anerkennung als Erwachsene (sowie als Frau in der patriarchalen Gesellschaft Süditaliens) und drängt gleichzeitig darauf, Einblick in das kriminelle Geschäft der Familie zu bekommen. Coming-of-Age wird bei Carpignano unweigerlich zum Moment des Schuldigwerdens.

So vielschichtig die Themen auch sind, die der Regisseur hier verhandelt, mutet „Chiara“ doch nie verkopft an. Im Gegenteil: Der Film vibriert geradezu vor Leben. Carpignano navigiert zielsicher auf dem Grat zwischen Arthouse und Genrekino. Und durchwirkt seinen Film zugleich mit feinen Symmetrien. Frühere Szenen greift er wieder auf, nur in neuen Konstellationen. So merkt Chiara nicht, wie sie die Handlungsmuster ihres Vaters zu wiederholen beginnt. Die Struktur der Gewalt wuchert von Generation zu Generation – bis der Staat einschreitet und versucht, die Heranwachsende ihrer Familie zu entreißen. Diesmal ist es Chiara, die die Flucht ergreift. Und wieder sieht man sie rennen, nun aber kommt sie vom Fleck. Doch der Weg hinaus aus dem Teufelskreis der ’Ndrangheta ist weit.

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