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Der belgische Schriftsteller Georges Simenon

© AFP

Maigret-Autor Georges Simenon: Besessen von der Psyche des Menschen

Die Weltbestseller von Georges Simeon erscheinen in einer neuen deutschen Edition. Ein Rundgang durch das Archiv des belgischen Schriftstellers in Lausanne.

Als John Simenon an diesem schönen Lausanner Spätsommertag die Tür zum Archiv seines Vaters Georges Simenon öffnet, fällt sofort die Unordnung auf. Gleich am Eingang stapeln sich mehrere Kartons, auf denen Broschüren, Papiere und Bücher liegen, man kommt kaum vorbei. In dem sich anschließenden großen Raum stehen dann überall kleine Tische und Bürowagen voller Werbeplakate, Comics und Originalausgaben, die in kleinen Plastiktüten stecken, dazu Korrespondenzen, Mappen und vieles mehr.

Nur die langen Regalreihen an den Wänden mit den Georges-Simenon-Ausgaben aus aller Welt haben ihre Ordnung. Natürlich finden sich hier auch die deutschsprachigen Bücher, angefangen mit denen aus dem KiWi- und dem Heyne-Verlag, in dem Simenons Romane in den sechziger und frühen siebziger Jahren erschienen sind. Darunter sind jene aufgereiht, mit denen dann der Züricher Diogenes Verlag Simenon im deutschsprachigen Raum immer populärer machte, die Maigrets und Non-Maigrets, oder „Roman durs“, harte Romane, wie Simenon sie nannte; erst die braungrau gebundenen, schließlich jene mit dem strahlend weißen Rücken und den Fotografien auf den Covern.

Diogenes und Simenon, das war über knapp vier Jahrzehnte ein Synonym, seit 1977. Als 2016 die deutschen Rechte ausliefen, vergab der für das Werk seines Vaters zuständige Sohn John Simenon sie nicht wieder an Diogenes, sondern bis 2022 an den Eigentümer des neu gegründeten, ebenfalls in Zürich ansässigen Kampa Verlag, an Daniel Kampa. Was so abwegig nicht ist: Kampa arbeitete bis 2013 bei Diogenes und war dort für das Simenon-Werk zuständig. John Simenon sagt, dessen „Begeisterung“ habe den Ausschlag für den Rechtewechsel gegeben, außerdem wollte er etwas „Neues“ ausprobieren.

Welche Fülle, welcher Wust

Die ersten Neuausgaben der Maigrets und der „Großen Romane“, wie die Non-Maigrets von nun an heißen sollen, sind nun also bei Kampa und dem mit ihm kooperierenden Verlag Hoffmann & Campe erschienen, einige neu übersetzt, die meisten neu durchgesehen. Dazu soll es Schriften aus dem Simenon-Werk geben, die bisher nicht auf Deutsch vorliegen, einiges Biografische oder auch ein Buch mit Erzählungen über einen Vorgänger von Maigret: Kommissar G 7, von Simenon so genannt, weil die roten Haare dieses Ermittlers ihn an die roten Dächer der G -7-Taxis der zwanziger Jahre erinnerten.

John Simenon zeigt sogleich eine alte Gallimard-Paperback-Ausgabe von 1966 mit G -7-Erzählungen und wird nicht müde, immer neue Trouvaillen aus dem Simenon-Fundus hervorzuholen und zu kommentieren. Zum Beispiel den Original-Band „Maigret und Pietr, der Lette“, der 1931 mit drei anderen als erste Maigret-Bände veröffentlicht wurde. Simenon stellte sie in einer Bar am Montparnasse vor und signierte sie. Oder zwei Ausgaben in der Pléiade-Edition – im Pantheon der französischen Literatur war Simenon mit knapp 100 000 Exemplaren der meistverkaufte Autor. Oder großformatig auf Zeitungspapier gedruckte Maigrets mit wunderbaren Coverzeichnungen aus den vierziger Jahren.

Und und und – welche Fülle, welcher Wust: Mit dem Simenon-Archiv in Lausanne verhält es sich ähnlich wie mit Leben und Werk des 1903 im belgischen Lüttich geborenen Schriftstellers. Es ist nicht leicht, die Übersicht darin zu behalten. Was hat Simenon nicht alles geschrieben: Unmengen von Groschenromanen, von Liebes-, Abenteuer-,und Kriminalgeschichten, die er unter Pseudonymen wie Georges Sim oder Christian Brulls veröffentlichte. Natürlich die 75 Maigret-Romane und eine Vielzahl kürzerer Maigret-Erzählungen. Dann die vielen Romane ohne den Kommissar mit seiner notorischen Pfeife, an die 120, dazu wiederum Non-Maigret-Erzählungen, die ebenfalls in die Hunderte gehen. Und schließlich: die autobiografischen Bücher, die bis auf das 1948 veröffentlichte „Pedigree“ und die Tagebücher „Als ich alt war“ von 1970 auf Tonbandprotokollen basieren, nachdem Simenon 1972 beschlossen hatte, nie wieder zu schreiben. Er hatte gerade „Maigret und Monsieur Charles“ veröffentlicht.

Ein bewegt-gelamouröses Schriftstellerleben

Aber auch in der Lebenswelt des Georges Simenon kann man sich problemlos verirren, verlieren. Allein sein aufregend-turbulentes Dasein in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Paris, die produktive Zeit, die er im Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich auf dem Land verbracht hat, seine Jahre in den USA, danach in Cannes. Zu schweigen von der problematischen Beziehung zu seiner Mutter wie der zu seiner zweiten Ehefrau Denise, überhaupt: Depressionen.

Dieses Schriftstellerleben war bewegt-glamourös , beeinflusst von den unruhigen, von zwei Weltkriegen überschatteten Jahrzehnten bis in die Sechziger hinein, als Simenon sich in der Schweiz niedergelassen hatte, zuerst in einem Schloss in Echandens, dann in ein einem selbst entworfenen, riesig-protzigen Haus in Épalinges, beides Orte nahe bei Lausanne am Genfer See. Und doch spiegeln sich die Zeitläufe, die Erschütterungen, Umwälzungen und Katastrophen des Jahrhunderts nur sehr dezent in seinem Werk, wenn überhaupt. Simenons Bücher sind im besten Sinn zeitlos, modern, ohne sich inhaltlich wie formal groß mit der Moderne zu beschäftigen. Die Welt der Maigret-Romane genau wie die der „richtigen“ Romane ist eine kleine, enge, abgezirkelte, oft düstere. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, ihre Begehren. Er sei „besessen“ von den „Empfindungen“ des Menschen, hat Simenon einmal seinem Brieffreund und Bewunderer André Gide geschrieben. Simenon versuchte stets, in die Haut seiner Figuren zu schlüpfen und mit ihnen zu leben, jedenfalls in den paar Wochen, in denen er die Romane verfasste. Er wollte ihre Bedürfnisse verstehen, ihre Wünsche, Gier, Ängste, Ressentiments und Fehler nachvollziehen, ihrer Psyche nachstellen, bis in verborgenste Seelenwinkel hinein.

John Simenon, Sohn des 1989 gestorbenen belgischen Bestsellerautors Georges Simenon, im Archiv seines Vaters.
John Simenon, Sohn des 1989 gestorbenen belgischen Bestsellerautors Georges Simenon, im Archiv seines Vaters.

© Christiane Oelrich/dpa

Das tat er selbst bei seinen abstoßendsten Figuren wie etwa dem Helden seines 1938 erschienenen Romans „Der Bürgermeister von Furnes“, Joris Terlinck, der in seiner Unnahbarkeit, seiner Kaltherzigkeit durchaus tragische Züge trägt. Oder bei der Hauptfigur seines 1948 veröffentlichten, in einer nicht näher bezeichneten Besatzungszeit spielenden Romans „Der Schnee war schmutzig“, Frank Friedmaier, der mehr aus Langeweile als aus einem politischen Widerstandsimpuls heraus einen Besatzungsoffizier ermordet. Simenons Romane haben etwas Existentialistisches, ihre Figuren leiden unter einer radikalen Entfremdung.

Nicht nur, weil beide zunächst für einen Massenmarkt schrieben, erinnert Simenons Werk in seiner Gesamtheit an Balzacs „Menschliche Komödie“. Abgerungen ist der existentialistische Ton dem steten Bewusstsein, wegen der Maigrets immer etwas scheel von der literarischen Seite angesehen zu werden – trotz Bewunderern von Fellini über Gide bis zu Patrick Modiano. In fast jedem seiner Romane vermochte Simenon, Stimmung und Stimmungen zu erzeugen, ohne viele Worte zu machen. Auf die Atmosphäre legt er so viel Wert wie auf die Psychologie der Figuren und bleibt doch sparsam im Ausdruck.  Einer der großen Vorzüge Simenons: Seine Prosa kommt ohne Schnörkel aus.

Simenon organisierte Shootings für Buchcover

Erstaunlicherweise war es Simenon 1972 wirklich ernst damit, das Schreiben aufzugeben. In seinem Pass ließ er in der Zeile „Berufsbezeichnung“ sofort „sans profession“ eintragen. Ob es an seiner Produktivität lag, dem hohen Output, der immens viel Kraft kostenden Einfühlung? John Simenon kann das nicht genau beantworten. Auf die Frage, wie er den Vater erlebt habe, ob dieser wirklich ständig geschrieben habe, wie es die Legende will, antwortet er: „Ich habe ihn eigentlich nie schreiben sehen. Er machte das morgens, wenn ich in der Schule war, arbeiten tat er nur für Journalisten, wenn die Bilder von ihm machen wollten.“

Über Privates lässt sich der Sohn nur widerstrebend aus, das merkt man an diesem Vormittag in Lausanne, da bleibt er diplomatisch, etwas schmallippig. Viel lieber gibt er sich als sorgsam-geschickter Verwalter und Vermarkter des väterlichen Erbes. Zupackend und lässig zugleich wirkt er mit seinem dunklen Hemd über der Jeans und den schwarzen Turnschuhen, eher wie Mitte fünfzig als Ende sechzig. Später unterstreicht er sein jugendliches Outfit mit abgeschnittener Jeansjacke und Basecap. Gerne preist John die Leistungen des Vaters an. Zum Beispiel sei dieser auch der Erfinder von Fotografien auf Buchcovern gewesen, sogar die Shootings dafür habe er organisiert. Oder er greift in eine Kiste auf dem Boden und zieht ein Konvolut mit Briefen heraus, die Georges Simenon an Denise geschrieben hat, als diese das Haus in Èpalinges verließ, um sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Sie kehrte jedoch nie wieder zurück.

John Simenon achtet in diesem Fall sehr darauf, dass man ihm mit den Smartphone-Kameras nicht zu nahe kommt. „Die sind noch nie veröffentlicht worden“, sagt er, „da darf auf Ihren Fotos nichts zu sehen sein. Die Briefe sichte ich für ein Buch“.

John plant ein Museum für seinen Vater

1949 in den USA geboren, verließ John das väterliche Haus in Épalinges 1967 gleich nach dem Abitur, um seinem älteren Bruder Marc nach Paris zu folgen. Auch „um sich selbst zu finden“. wie er sagt. Er studierte in den USA und England, lebte in London, wurde Filmemacher. Sein Vater wiederum verließ zu dieser Zeit Èpalinges, das Haus wurde abgerissen und Georges zog in ein Sieben-Zimmer-Appartement in der City von Lausanne. Von hier aus entdeckte Simenon dann ein kleines Haus aus dem 18. Jahrhundert, mit vier Zimmern und einem Garten hintendran. In diesem sollte er mit seiner letzten Lebensgefährtin Teresa leben, gestorben ist er dann im Luxushotel Beau-Rivage.

Es ist das berühmte rosa Haus, das inzwischen unter Denkmalschutz steht. Hier lag im Garten unter einer Zeder seine Asche und auch die seiner Tochter Marie-Jo, die sich 1978 das Leben nahm. Die Zeder ist inzwischen einem Sturm zum Opfer gefallen, und das Haus gehört einer Frau, die zwar Simenon-Fan ist, aber nicht viel übrig hat für Literaturtouristen. Einlass verboten.

John Simenon möchte hier eines Tages ein Museum für seinen Vater einrichten, wogegen jene Hausbesitzerin sich sträubt. Aber große Eile hat er damit nicht: Solange Simenons Bücher gelesen werden, lacht er, braucht es kein Museum.

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