zum Hauptinhalt

Kultur: Malewitsch und die Taiga

Wie die russische Avantgarde von Sibirien inspiriert wurde: eine Ausstellung in Florenz.

Nach Florenz zu fahren, um Kunst der russischen Avantgarde zu sehen, scheint auf den ersten Blick absurd. Doch was der stets für Entdeckungen sorgende Palazzo Strozzi unter dem Titel „Die russische Avantgarde. Sibirien und der Osten“ aus russischen Museen zusammengetragen hat, war in solcher Zusammenstellung noch nie zu sehen. Das Kuratorenteam hat einfach den Satz von Natalija Gontscharowa beim Wort genommen, die 1913 sagte „Ich habe alles, was mir der Westen geben konnte, gelernt. Jetzt schüttle ich den Staub von meinen Füßen ab und verlasse den Westen. Mein Weg verläuft zur Quelle aller Kunst, dem Osten.“

Der Osten beginnt nicht weit von Moskau, wo 1881 die Gontscharowa studierte und mit Michail Larionow Ausstellungen und Künstlergruppen organisierte. Der Osten Russlands wiederum, Sibirien und die Steppe, war in der Ethnografischen Abteilung des Russischen Museums zu besichtigen, in Gestalt von Objekten der sibirischen Stämme und ihrer Schamanen, die von den Expeditionen des späten 19. Jahrhunderts mitgebracht worden waren. Diesen Einfluss nahmen zahlreiche Künstler der russischen Avantgarde auf: Die Florentiner Ausstellung zeigt Gemälde und Skulpturen denn auch in direkter Nachbarschaft mit solchen Objekten und kultischen Gegenständen. Mit einem Mal zeigt sich, dass die vermeintliche Geometrisierung und Abstraktion der Avantgarde nichts anderes ist als eine höchst wahrheitsgetreue Wiedergabe dieser Objekte zumeist aus dem Holz der sibirischen Wälder, aber auch aus Tiergeweihen sowie der rätselhaften, mächtigen Grabfiguren aus Stein.

Faszinierend etwa die Gegenüberstellung einer hölzernen Maske der Korjaken von der Halbinsel Kamtschatka mit dem Gemälde eines Kopfs von Kasimir Malewitsch von 1929, das als farbige Ausmalung der unbemalten Ritualmaske kenntlich wird. Das Volk der Udegei stellt Schutzgeister der Taiga in Gestalt langgestreckter Hunde dar, die auch als Reittiere dienen können – und so auf Gemälden des eigenwilligen, eher als Symbolist bekannten Pawel Filonow wiederkehren. Die Steinfiguren der Polowetzer – manche stammen bereits aus dem 10. Jahrhundert – hat Natalija Gontscharowa in ihren Gemälden des „Neoprimitivismus“ dargestellt – detailgenaue Wiedergaben dessen, was sie im Russischen Museum gesehen hatte.

Es handelt sich also um einen imaginierten Osten, der die Künstler inspirierte, um sich in einen geistigen Orient zu versenken, der einen Ausweg aus dem überbordenden Materialismus verhieß. Der Dichter und Theoretiker des Symbolismus, Andrei Bely (er lebte von 1921 bis 1923 in Berlin-„Charlottengrad“), zeichnete während eines Kuraufenthalts noch 1927 ein „Historiosophisches Schema“ der Kulturentwicklung gemäß den Lehren Rudolf Steiners. Die bolschewistische Partei erlaubte jedoch bald nur noch den Orientalismus eines Ruvim Mazel, der die islamischen Republiken des Südens in folkloristischen Bildern festhielt.

Mit dem Fernen Osten hatte Russland allein schon durch die tausende Kilometer lange Grenze zu China Kontakt. Japan schob sich schmerzlich ins russische Bewusstsein als Sieger des Kriegs von 1904/5, mit dem das erstarkende Inselreich in die Weltpolitik eintrat. Auf offiziellen Grafiken wurde Japan als feuerspeiender Drache gefürchtet, doch Künstler wie der traditionell arbeitende Wassili Wereschtschagin – der in besagtem Krieg sein Leben verlor – hatten japanische Szenerien voller Anmut dargestellt. Chinesische Grafik wiederum wurde geradezu kopiert; Anregungen kamen ebenso aus Persien oder Indien.

Die russische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, so sehr sie auch nach dem Westen und vor allem nach Paris blickte, suchte nach Wurzeln, nicht nur in der nationalen Tradition des vor allem im 19. Jahrhundert beschworenen Russentums, sondern ebenso bei den unerforschten Völkern des Riesenreichs. Mit dem Sieg der Bolschewiki verschwanden die Eigenständigkeiten der indigenen Völker und Kulturen. Der imaginierte Osten blieb Episode; aber eine, die zu erkennen den Blick auf die Avantgarde nachhaltig verändert. Natalija Gontscharowa übrigens emigrierte bald für immer nach Paris. Bernhard Schulz

Florenz, Palazzo Strozzi, bis 19. Januar. Katalog bei Skira, italien. oder engl., 35 €

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false