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Das Proust-Porträt von Jacques-Emile Blanche.

© imago stock&people

Marcel Proust zum 100. Todestag: Doch nicht unbekannt geblieben

Die 99. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ widmet sich unter anderem Proust und den Erinnerungen, die kurz nach seinem Tod erschienen sind.

Als Reynaldo Hahn am 18. November 1922 die literarische Welt, und nicht nur diese, vom Tod seines lebenslangen Freundes und Ex-Geliebten Marcel Proust in Kenntnis setzte, zeigte sich diese tief bewegt. Viele Kollegen erwiesen Proust schon am Totenbett die letzte Ehre, und nur ein paar Wochen später, am 1. Januar 1923, erschien eine Sondernummer der „Nouvelle Revue Française“ mit Erinnerungen an Proust, von Joseph Conrad, André Gide, Paul Valéry und vielen anderen.

In der neuen Ausgabe des wunderbaren „Schreibhefts“, der von Norbert Wehr herausgegebenen Literaturzeitschrift, (Rigodon Verlag, Essen 2022. 180 S., 15 €.) lassen sich nun erstmals, aus gegebenen Anlass, drei Beiträge dieser Sonderausgabe der „NRF“ auf Deutsch lesen. Es sind jene von Paul Morand, Jean Cocteau und Valery Larbaud, übersetzt von dem Literaturwissenschaftler und Proust-Experten Jürgen Ritte.

Zentrum seiner Rosette?

Cocteaus Erinnerungstext fällt allein deshalb aus dem Rahmen, weil er mehr aus Snippets besteht, aus analysierenden Bruchstücken. Obwohl sie eine gedankliche Chronologie aufweisen und miteinander verbunden sind, demonstrieren sie, dass ein einziger Text Proust und seinem Werk kaum gerecht werden kann: „Und hier nun weise ich auf den Irrtum hin, der in dem Glauben besteht, Marcel Prousts Leben teile sich in ein mondänes Leben und ein einsames Leben, in eine erste und eine zweite Phase.“

Nein, ersteres sei das „wirkliche Zentrum seiner Rosette“ gewesen, weiß Cocteau. Ob wirklich klar ist, was er damit versinnbildlichen will?

Weniger explizit sind Morand und Larbaud. Morand, der, obwohl ein Antisemit und viel jünger als Proust, mit diesem eng befreundet war, schwärmt von den Abenden, „wenn er erzählte, auswendig zitierte“, von Prousts Fähigkeit zur Freundschaft.

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Und Larbaud erinnert an die Reaktionen 1920, als Proust den Prix Goncourt verliehen bekam: „Er ist nicht jung; aber unbekannt, das ist er – und wird er bleiben“, schrieb eine Zeitung. Das sei eine Fehleinschätzung, so Larbaud, ähnlich der von Madame de Sévigné über Racine.

Es ist natürlich ein Vergnügen, diese Texte zu lesen, gerade auch weil sie so frisch unter dem Eindruck des Todes von Proust stehen und von dessen zukünftiger Größe künden, die so kaum erahnbar war. Dazu passt als schöne Ableitung, als Jahrhundertauseinandersetzung gewissermaßen, die Proust-Hommage des kroatischen Schriftstellers Bora Cosic, die dieser vergangenes Jahr als Kurz-Roman geschrieben hat, „Bergottes Witwe“. Als „Persiflage, ein ironisches Palimpsest, eine gewagte Hommage“, bezeichnet Alida Bremer diese Proust-Variation in ihrem instruktiven Nachwort.

Verschwiegen soll an dieser Stelle nicht, dass auch die anderen Großkapitel dieses „Schreibhefts“ über den Lyriker George Oppen und die chinesische Schriftstellerin Can Xue unbedingt lesenswert sind. Und dass die nächste „Schreibheft“-Ausgabe eine Jubiläumsausgabe ist, Nummer 100. Ob diese ebenfalls eine Rahmen sprengende Prachtausgabe wird, wie seinerzeit die Sondernummer der „Nouvelle Revue Française“?

99. Schreibheft-Cover

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