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Kultur: Meine späte Tochter

Seelengewitter: Susanne Biers „Nach der Hochzeit“ erkundet den familiären Ausnahmezustand

Die dänische Regisseurin Susanne Bier ist – zusammen mit ihrem Drehbuchautor Anders Thomas Jensen – eine Virtuosin in der Inszenierung familiärer Ausnahmezustände. In „Open Hearts“ (2002) reißt ein Unfall, der eine fatale Liebe auslöst, zwei Ehen und eine Familie in den Abgrund. In „Brothers“ (2004) zerstört ein dänischer Offizier, der aus dem Afghanistan-Einsatz ein furchtbares Trauma mitbringt, mit militärischer Konsequenz seine Familie. Nie machen sich die Figuren dieser Filme im vordergründigen Sinne schuldig. Ihnen widerfahren eher Schicksalsschläge im Sinne der altgriechischen Tragödie, und schon zappeln sie in einem faszinierenden Netz von Unausweichlichkeiten, woran die stets hoch gespannten Zuschauer ihre läuterungsorientierte Freude haben.

„Nach der Hochzeit“ bedient sich, wie schon „Brothers“, der Wunden der Globalisierung, um darin die individuelle Dysfunktion im Familiären zu erforschen. Jacob (Mads Mikkelsen), ein unruhiger Asket, widmet sich seit 20 Jahren indischen Straßenkindern und hat in Bombay ein Waisenhaus aufgebaut. Als er in die verhasste Heimat Dänemark gerufen wird, um persönlich um eine Spende des Industriellen Jørgen (Rolf Lassgård) zu kämpfen, geht er in eine private Falle. Jørgens Ehefrau Helene (Sidse Babett Knudsen) ist Jacobs stürmische Jugendliebe, und Helenes Tochter Anna (Stine Fischer Christensen), deren Hochzeit gerade gefeiert wird, ist Jacobs Kind.

Mit rasanter Zielstrebigkeit – und getrieben von der eleganten, dogmagesättigten Handkamera Morten Søborgs – treibt die Geschichte in ihr dramatisches Zentrum: Wie mit einer Nachricht umgehen, die eine ganze Lebensmoral verändert, ja, neu definiert? Jacob stellt sich den neuen Aufgaben so unerschrocken und direkt, wie er in Indien zu agieren gewohnt war. Diszipliniert durchlebt er ein nachgetragenes Seelengewitter mit Helene, nimmt die Beziehung zur plötzlich zugewachsenen Tochter an – und muss vor allem die Motive Jørgens erforschen, der den Idealisten mit der Aussicht auf eine hohe Fördersumme gängelt und zugleich in die eigene Familie hineinzwingt. Bis zur Halbzeit holt der Film mit Augenmaß und großartigem Timing das Äußerste aus seinem Plot heraus – als aufregende Psychostudie um die Dekonstruktion und schmerzhafte Rekonstruktion einer Patchworkfamilie.

Bald nach der Hochzeit aber – und hier mag die Lektüre unterbrechen, wer Filmkritik als bloßen Kaufreizimpuls zur Wundertüte Kino versteht – opfern Bier und Jensen mit fataler Planmäßigkeit die Stimmigkeit der Charaktere ihrem schon den früheren Filmen zugrunde liegenden Prinzip, nur grundgute Menschen in die reinigende Krise zu treiben.

Jørgen, Prototyp des cool-vitalen Geschäftsmanns, der die Elementarteilchen seines Privatlebens zunächst faszinierend undurchschaubar in die Katastrophe schleudert, ist tatsächlich todkrank und will nur letzte Verhältnisse ordnen; seinem fragwürdigen Restallmachtsanspruch erteilt das Drehbuch mit extremer Sentimentalitätsbereitschaft Absolution. Vor allem aber muss die frischverheiratete Anna arg plötzlich ins Unglück stürzen, damit der widerstrebende Jacob seine Vaterrolle auch zuverlässig überstreift. Drehbuchtrick folgt auf Drehbuchtrick, und umstandslos verwandeln sich die so lebendigen Filmcharaktere in Pappkameraden und -kameradinnen, die mit wachsender Schamlosigkeit zur Tränenausschüttung schreiten.

„Nach der Hochzeit“ konkurriert derzeit um den Auslandsoscar, und das nächste Projekt, mit Benicio del Toro und Halle Berry, führt Regisseurin Susanne Bier geradewegs nach Hollywood. Auch das zeigt „Nach der Hochzeit“: Die Dänin hat ihre Reise pünktlich gebucht – in jenes Filmland, wo man es immer schon ein bisschen deutlicher hatte.

Broadway, Cinemaxx Potsdamer Platz, Filmkunst 66, FT Friedrichshain, Kulturbrauerei, Neues Off

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