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Leonor Silveira spielt in „Am Ufer des Flusses“ eine an die Figur Madame Bovary angelehnte junge Frau.

© Arsenal

Retrospektive Manoel de Oliveira: Meister guter Geister

Manoel de Oliveira war viele Jahre der dienstälteste Filmemacher der Welt. Das Berliner Arsenal widmet dem großen Portugiesen nun eine Retrospektive.

Im Jahr 1982 nahm der damals 73-jährige Manoel de Oliveira den Verkauf des Hauses, in dem er mehrere Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt hatte, zum Anlass, sein Leben Revue passieren zu lassen. Die Kamera durchquert noch einmal die mit Erinnerungen behafteten Räume. Der portugiesische Regisseur filmt den idyllischen Garten, Familienfotos und sich selbst an seiner Schreibmaschine. Der Gestus des von einem geisterhaften Dialog zweier körperloser Stimmen durchsetzten Films ist alles andere als schwermütig, dennoch könnte man „Visit or Memories and Confessions“ auch für einen heiteren Abschied vom Kino wie vom Leben halten.

Möglicherweise hatte de Oliveira den Film sogar in diesem Sinne angelegt – jedenfalls verfügte er, dass „Visit or Memories and Confessions“ erst nach seinem Tod aufgeführt werden dürfe. Er ahnte wohl nicht einmal, dass er sich 1982 fast noch am Anfang seiner Filmkarriere befand. Bis dahin hatte der Regisseur, der sich in den langen Jahren der Salazar-Diktatur zwischen 1932 und 1968 nur sporadisch mit dem Kino beschäftigte, lediglich sechs lange Spielfilme vollendet. In den nächsten drei Jahrzehnten entstanden dafür noch 25 weitere. Als de Oliveira 2015 im Alter von 106 Jahren starb, verlor die Filmgeschichte ihre vermutlich letzte lebende Verbindung zur Welt des Stummfilmkinos. Seine ersten kurzen Dokumentarfilme waren Anfang der dreißiger Jahre noch ohne Tonspur in die Kinos gekommen, seine letzten filmischen Arbeiten konkurrierten hingegen schon mit YouTube und Netflix um die Aufmerksamkeit des Publikums.

Spöttischer Blick auf die Welt

Das Berliner Arsenal-Kino zeigt im April nun eine Auswahl von 17 Filmen eines Regisseurs, der schon zu Lebzeiten eine Legende war – wohlgemerkt eine Legende der bescheidenen, durchaus auch ein wenig rätselhaften Art. In „Visit or Memories and Confessions“ tritt de Oliveira als freundlicher älterer Herr vor die Kamera, der gleichzeitig in sich selbst ruht und mit einer fast spöttischen, aber nie bösartigen Ironie auf die Welt blickt.

Das passt zu seinen Filmen, die auf den ersten Eindruck oft spröde erscheinen, insbesondere aufgrund der oftmals hochliterarisch stilisierten Dialoge. Ihre außergewöhnliche Kraft entfalten sie nur langsam. Wenn man sich freilich auf ein Werk wie die dreistündige Madame-Bovary-Variation „Am Ufer des Flusses“ einlässt, kommt einem hinterher die echte Welt, in der man nur äußerst selten schönen, neurotischen Frauen begegnet, deren bloßer Anblick Autounfälle verursacht, wie eine reichlich fade Angelegenheit vor.

Die Abgründe der romantischen Liebe und die Tücken eines erotischen Begehrens, dessen Objekt sich dem Begehrenden immer schon entzieht, sind ein zentrales Thema seines Werks. Aber beileibe nicht das einzige. In de Oliveiras Filmografie findet sich auch der wichtigste Film über den portugiesischen Kolonialismus. „NON, oder der vergängliche Ruhm der Herrschaft“ ist der künstlerisch wie geschichtsphilosophisch radikale Versuch, Nationalgeschichte als eine Folge von Niederlagen und Demütigungen zu schreiben. Der als Nachkomme einer Industriellenfamilie finanziell zeitlebens weitgehend sorgenfreie de Oliveira war stets auf seine künstlerische Autonomie bedacht. Zeitlos ist das Werk vor allem aus diesem Grund: Er konnte es sich leisten, seinen eigenen intellektuellen (oder auch erotischen) Interessen zu folgen.

Kraft des Kinos

Die Retrospektive präsentiert Arbeiten aus allen Werkphasen. Schon der erste lange Spielfilm „Aniki Bóbó“ von 1942, fotografiert an Originalschauplätzen in de Oliveiras Heimatstadt Porto, gilt als ein Meisterwerk des klassischen portugiesischen Kinos. Im Film treten fast nur Kinder auf – die allerdings eine Geschichte ausagieren, die auch unter Erwachsenen spielen könnte. Zwei Jungen verlieben sich in dasselbe Mädchen, einer der beiden kommt, um das Herz der Angebeteten zu gewinnen, auf dumme Gedanken. Ein weiterer Meilenstein aus dem Frühwerk ist „Der Leidensweg Jesu in Coralha“ von 1963, eine selbstreflexiv angelegte Verfilmung der Passionsgeschichte mit Laiendarstellern, eine quasidokumentarische Studie von fast schmerzlicher visueller Schönheit, der es gelingt, die Gesichter der Figuren in wandelnde Heiligenbilder zu verwandeln.

Der jüngste Film der Reihe ist einer von de Oliveiras verrücktesten. In „Der seltsame Fall der Angélica“ von 2010 erhält der Fotograf Isaac den Auftrag, eine jung verstorbene Frau vor ihrer Beerdigung zu porträtieren. Als er durch den Sucher des Apparats schaut, schlägt die Tote plötzlich die Augen auf und blickt lächelnd zurück. Die unerwartete Erwiderung seines voyeuristischen Begehrens, die vom Film nicht eindeutig als Halluzination gekennzeichnet wird, lässt den Fotografen nicht mehr los. Er beginnt seine Umwelt mit völlig anderen Augen wahrzunehmen. Wie in Trance irrt Isaac fortan durch die Straßen einer malerischen Ortschaft und wendet sich ohne erkennbaren Anlass den örtlichen Weinbauern zu, in deren Bewegungen man plötzlich einen geheimnisvollen Rhythmus zu entdecken meint.

So verwandelt sich Manoel de Oliveiras „Der seltsame Fall der Angélica“ in eine eigensinnige, rührende, zwischendurch auch immer wieder bizarr-komische Allegorie auf die weltverändernde Kraft des Kinos.

8. bis 30. April. Infos zum Programm: www.arsenal-berlin.de

Lukas Foerster

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