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Warten auf Rettung. Ein Bewohner von New Orleans versucht, sich von Fluten nicht wegspülen zu lassen, die Hurrikan Katrina im September 2005 mit sich brachte.

© REUTERS

Memoir als Zeitgeschichte: Die wuchernden Schritte des Verfalls

Was Katrina hinwegfegte: Sarah M. Broom erzählt die Geschichte ihres Hauses in New Orleans.

Das Holzhaus steht am kurzen Stück der langen Wilson Avenue. Abgeschnitten vom gefährlichen Chef Menteur Highway, auf dessen Mittelstreifen schon einmal Karen, eine der elf älteren Schwestern der Erzählerin, auf dem Schulweg von einem Auto mitgeschleift werden kann, gehört dieser Zipfel zum östlichsten New Orleans.

Ein „Außerhalb“ der quirligen Stadt, obwohl dieses New Orleans East fünf Mal größer ist als das berühmte French Quarter am Jackson Square. Rechts und links des Highways „heruntergekommene Wohnblocks, die früher The Groove, The Goose und The Gap genannt wurden“.

Früher, weil die menschengemachte Natur mit dem hübschen Namen Katrina 2005 den Stadtteil einfach vom Erdboden wegfegte und vom Wasser verschlucken ließ. Und mit ihm das „gelbe Haus“, das Ivory Mae Broom mit ihrem Mann Simon 1961 erstanden und sich damit ihren sehnlichsten Traum erfüllt hat.

Diesem Haus zollt die 1978 geborene Tochter Sarah M. Broom in ihrem Memoir nun Tribut. In ihm konzentriert sich die über drei Generationen reichende Familiengeschichte der Autorin. Der hellere oder dunklere Hautton ihrer Familienangehörigen hat Bedeutung in einer Stadt, die fixiert ist „auf die Nuance der Hautfarbe, regelrecht besessen. Meine Mutter Ivory Mae begriff schon früh, welchen Wert ihre helle Haut hatte und die Struktur ihres lockigen Haares, die sie als gut bezeichnete“, berichtet die Autorin.

[Sarah M. Broom: Das gelbe Haus. Leben und Überleben einer Familie in New Orleans. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Hanser Berlin 2022. 431 Seiten, 26 €.]

Ivory Mae ist das jüngste Kind von Amelia Gant, Lolo genannt, und wie ihre älteren Geschwister Joseph und Elaine – für Broom „Uncle Joe“ und „Auntie Elaine“ – unehelich geboren. Denn Joseph Soule, der Erzeuger, diente dem katholischen Gott, war verheiratet und hatte schon Kinder.

Strenge Segregation in den Schulen

Die 1916 geborene Lolo bemühte sich, ihren Sprösslingen „eine Kindheit zu verschaffen“, in einer Zeit, in der in den Parks der schwarzen Viertel noch Tafeln mit der Aufschrift „No Negros, No Chinese and No Dogs“ standen und in den Schulen strenge Segregation herrschte.

Ivory Mae wird in eine katholische Sekte hineingeboren und lernt von ihrer Ziehmutter, die zur weiblichen Überlebensgemeinschaft gehört, das „Göttliche im Alltäglichen“ zu erkennen. Gleichzeitig verhöhnt sie die schwarzen Jungs auf der Straße. „Für mich“, erklärt Ivory gegenüber der berichterstattenden Tochter, „war meine Mutter nicht Schwarz. Sie war meine Mama, und meine Mama war nicht Schwarz.“

Der Hautton der Kinder mag, neben Lolos Erziehung, dazu beigetragen haben, dass das Vestimentäre später eine so große Rolle spielen wird. Zumindest Ivory Mae und Joe „kleideten sich, um gesehen zu werden“.

Ivory Mae heiratete früh, doch ihr Kinderfreund Webb überlebte nicht lange, er verunfallte knapp 19-jährig während seiner Militärzeit. Da sind schon zwei Kinder auf der Welt, das dritte, das „schwarze Schaf“ der Familie, ist unterwegs.

Für Ivory war Simon Broom, der „so stolz redete“ und ebenfalls drei Kinder mit in die Ehe brachte, „eine Entscheidung“, die die Geschwisterreihe völlig durcheinanderbrachte. Das Paar traf sich in den frühen sechziger Jahren, als aus dem vollständig unter dem Meeresspiegel liegende New Orleans East eine Modellstadt werden sollte.

Aus dem Sumpf geholt

Als sie 1964 in der Wilson Avenue einzogen, waren sie die einzigen Schwarzen. Das Shotgun-Haus musste erst aus dem Sumpf hochgeholt werden. Kaum ein Jahr später wurde der Osten von Wanderhurrikan Betsy heimgesucht, „es war wie in einem Film“, erzählen die älteren Geschwister Sarah. 160 000 schludrig gebaute Häuser wurden wegfegt. Um die reicheren Viertel zu retten, so das Gerücht, wurden Dämme gesprengt.

Broom, die diese Ereignisse selbst nicht miterlebt hat, stützt sich neben den Familienerzählungen auf umfangreiche Recherchen. Bodenspekulation, die Hoffnung auf den Boom durch den Produktionsstandort der NASA, wo zuerst Vater Simon und später Sarahs Bruder Carl arbeiteten, eine chaotische Stadtplanung und soziale Aufstiegsversprechen spielen dabei eine wichtige Rolle und tangieren auch die Bewohner der Wilson Avenue. Als die sehschwache Sarah, von der Familie mit ihrem zweiten Namen Monique genannt, zur Welt kommt, stirbt ihr Vater. Da hat sich NO East bereits in ein schwarzes Viertel verwandelt.

Sarah gehört mit den jüngeren Geschwistern zur ersten schwarzen Minderheit in den Schulen für Weiße. Sie werden nicht nur diskriminiert, sondern lernen auch die Scham. Die von der Mutter so gepflegte Äußerlichkeit lässt sich nach Simons Tod nicht aufrechterhalten, im Wettstreit der Notwendigkeiten unterliegt das verfallende gelbe Haus dem Schulgeld für Sarah. So wird es zu Ivory Maes „13. Problemkind“, das sorgsam vor fremden Augen verborgen bleibt. „Unser Haus ist ja nicht so behaglich für andere“, hören die Kinder als tägliche Litanei.

Die nicht nur zwischen zwei Namensexistenzen zerrissene Sarah versucht, dem immer leerer werdenden Haus, in das die Geschwister nur in Notlagen zurückkehren, zu entkommen. Sie studiert, geht als Journalistin nach New York und als Aktivistin nach Burundi. Als Katrina am 27. August 2005 die Küste erreicht, hält sich Sarah in Harlem auf. Die noch in New Orleans lebenden Geschwister entkommen, Carl, der treue Beschützer des Hauses, überlebt auf abenteuerliche Weise. Grandma Lolo geht verloren, auch mental.

Geografische Zerstreuung

Dieser letzte Teil dieses beeindruckenden Erinnerungsbuches handelt von geografischer Zerstreuung, Rückkehr und den Bemühungen der Bewohner, entschädigt zu werden. „Ich will nicht aus dieser Welt scheiden ohne mein eigenes Haus zu haben“, bekräftigt Ivory, als klar ist, dass das gelbe Haus der Abrissbirne zum Opfer fällt. Sarah begleitet die Veränderungen der Stadt nach dem Sturm eine Zeitlang als Redenschreiberin des populistischen schwarzen Bürgermeisters, der den Mythos New Orleans beschwört, unter dessen Last die schwarzen Einwohner aber ächzen und ersticken.

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Der Osten mit seinen Geisterbriefkästen wird stillschweigend aufgegeben und dessen wenige dort verbliebenen Bewohner gelten bei der Stadtverwaltung als „Ausnahme“. „Die Straße verändert sich mit den kleinen wuchernden Schritten des Verfalls. Alles, woran wir vorüberkamen, war früher etwas anderes gewesen.“

Broom, für ihr Buch mit dem National Book Award für Nonfiction ausgezeichnet, gelingt es, die Bilder der Stadt aufzurufen und die Gefühle der Entwurzelten, für die ein Haus mehr als Herberge, nämlich Heimat ist, intensiv einzufangen.

Gelegentlich fordert sie direkt dazu auf, zu „hören“ und zu „schauen“ und sich der Ungerechtigkeiten bewusst zu werden, denen die Schwarzen im amerikanischen Süden ausgesetzt sind. Das Buch ist ein empathisches Geschenk an die Familie und gleichzeitig das scharfzüngige Dokument eines strukturellen Rassismus. Und ungeachtet aller erlebten Drangsal eine Liebeserklärung an New Orleans.

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