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Kultur: Menschen im Mai (Kommentar)

Solange wir jung sind, sind wir dumm und suchen das Abenteuer. Die Nachkriegskinder fanden das Abenteuer auf den Trümmergrundstücken, wo noch Handgranaten lagen, Betreten streng verboten.

Solange wir jung sind, sind wir dumm und suchen das Abenteuer. Die Nachkriegskinder fanden das Abenteuer auf den Trümmergrundstücken, wo noch Handgranaten lagen, Betreten streng verboten. Es war außerdem beliebt, Zucker in Benzintanks zu schütten oder die Mercedes-Sterne von den Kühlern abzubrechen. Später haben wir uns das abgewöhnt. Inzwischen fahren einige der Sachbeschädiger von einst selber Mercedes, die Sterne gehen zum Glück nicht mehr so leicht ab wie früher.

Die Kreuzberger Krawalle zum 1. Mai gehören in dieselbe Kategorie wie das Sternepflücken, mit Politik hat das fast nichts oder höchstens indirekt zu tun. So erklären es uns auch die Psychologen: Der 1. Mai ist als Jour Fixe der Berliner Jugend ein enger Verwandter der Love Parade und des Karnevals der Kulturen, bloß mit einem höheren Verletzungsrisiko. Im Grunde - sagen die Psychologen - verhalten die 13- oder 15-Jährigen, die Autos anzünden, sich relativ normal. Die meisten von ihnen werden in 20 Jahren angepasste Bundesbürger sein, keine Sorge. Es gibt nun einmal dieses Abenteuerdefizit in einem Land, in dem ziemlich viel erlaubt und ziemlich wenig verboten ist.

Was folgt daraus? Soll man die Kosten des Kreuzberger Mai, die Verletzten, die zerstörten Geschäfte und Autos, abbuchen als einen unvermeidlichen Preis, den wir für das Erwachsenwerden eines Teils unserer Jugend zu bezahlen haben? Nein, das können wir nicht. Dazu sind wir selbst längst viel zu erwachsen, und zu klug. Wir haben zum Beispiel eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Schmerz, den ein Stein verursacht, den jemand an den Kopf bekommt.

Immerhin, es gibt da etwas, ein Gefühl, an das wir Erwachsenen uns noch schwach erinnern können, etwas, das nach einem Ventil drängt. Brav zu sein, wird nie modern. Und wenn es uns endlich gelungen ist, das Kreuzberger Ventil zu schließen - was zweifellos eines Tages gelingen wird -, dann wird es ein anderes Ventil geben. Irgendeines. Ob wir dann in besseren oder in schlechteren Verhältnissen leben, wissen wir erst, wenn es so weit ist.

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