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Kultur: Möbel wagen

Schränke, teuer wie ein Schloss: Prunkstücke der Roentgen-Manufaktur im Kunstgewerbemuseum

Hinter diesen Säulchen, Türmchen und Geländerchen müssen Heinzelmännchen wohnen. Dreht man den Schlüssel, springen unvermutet Türen auf. Oder Schubkästen, die sich wie von Geisterhand getrieben nach vorn bewegen und, raffiniert ausklappend, weitere Geheimfächer freigeben. Aus dem Nichts fahren Münzfächer oder Geldkassetten hoch. Zylindrische Brieffächer beginnen sich zu drehen – und zu all dem erklingen auf versilberten Bronzeglöckchen zarte Melodien.

Das 3,59 Meter hohe „Neuwieder Kabinett“ ist eines der aufwendigsten und extravagantesten Möbelstücke, das je in Europa hergestellt wurde. Geschaffen wurde das frühklassizistische Wunderwerk 1778/79 in der Möbelmanufaktur von David Roentgen in Neuwied, gekauft hat es der preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm II. für sagenhafte 12 000 Goldtaler. Dafür hätte man ein ganzes Schloss samt Inventar und Park bekommen. Nur der Markt für zeitgenössische Kunst kennt heute vergleichbar irrationale Preise. Inzwischen gehört das Prunkmöbel mit integrierter Präzisionsuhr und ausgefeilter Mechanik zu den Topstücken der Staatlichen Museen zu Berlin. Das „Neuwieder Kabinett“ ist ein Kunstwerk, kein schnödes Schreibmöbel. Richtig benutzt wurde es nie.

Anlässlich des 200. Todestages von David Roentgen arrangiert das Berliner Kunstgewerbemuseum nun um die eigene, trotz Kriegsverlusten noch immer herausragende Sammlung von Möbeln der Roentgen-Manufaktur eine atemberaubende Ausstellung. Neben dem „Neuwieder Kabinett“ werden, als Leihgaben aus Amsterdam und St. Petersburg, zwei weitere Wundermöbel gezeigt: der mit Marketerien (farbigen Einlagen aus verschiedenen Hölzern, Elfenbein und Perlmutt) überzogene Pultschreibtisch, den Vater Abraham Roentgen 1760/65 für einen Trierer Fürstbischof schuf; und der mechanisch zum Stehpult auffahrbare Schreibtisch, mit dem der Sohn 1785/86 Zarin Katharina die Große begeistert hat.

Vorgeführt bekommt man die über Federn, Seilzüge und Bleigewichte laufenden Mechaniken dieser Verwandlungsmöbel in der Ausstellung (und als DVD- Beigabe im Katalog) mittels eines Films. Zu anfällig sind die hinter kostbarem Mahagoniholz verborgenen Maschinen, um sie regelmäßig zu strapazieren. Auch bewegt werden dürfen die bis zu 850 Kilogramm schweren Möbel nicht mehr oft. Schon deshalb ist das von Achim Stiegel kuratierte Gipfeltreffen eine Sensation. Knapp 700 Erzeugnisse der Roentgen-Manufaktur lassen sich noch nachweisen, in Berlin sind nun einige der schönsten versammelt. Wegweisend waren Roentgen Vater und Sohn nicht nur wegen exquisiter Qualität, sondern ebenso durch neuartige Produktions- und Vertriebsstrukturen. Nach Lehrjahren in Holland und London ließ sich Abraham Roentgen 1750 im wirtschaftlich prosperierenden Residenzstädtchen Neuwied nieder. Als Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeine genoss er Privilegien wie die Befreiung vom Zunftzwang. Die Produktion war arbeitsteilig organisiert, keine herkömmliche Tischlerwerkstatt, in der nur wenige Gesellen und Lehrlinge arbeiteten.

Bereits Abraham Roentgen ließ auf eigene Rechnung vorproduzieren und bot seine Möbel auf Messen an. David, der Ende der 1760er Jahre die Firma schrittweise übernahm, war ein Verkaufsgenie. Er veranstaltete 1769 eine Lotterie zur Abwendung des Konkurses und pflegte Kontakte zu Höflingen und Diplomaten, um die an jeder Landesgrenze (und davon gab es damals viele) fälligen Einfuhrsteuern zu umgehen. So konnte er mit teilweise über 100 Möbelstücken nach Paris, St. Petersburg oder Brüssel reisen, um persönlich Überzeugungsarbeit zu leisten. 1785 beschäftigte Roentgen weit über 100 Arbeiter. Mit der Französischen Revolution änderten sich auch der Geschmack und die finanziellen Möglichkeiten des europäischen Hochadels. David Roentgen ging auf seine letzte, diesmal zehnjährige Verkaufsreise: zum Abverkauf des gesamten Lagerbestandes.

Kunstgewerbemuseum am Kulturforum, bis 11. November. Katalog (zugleich Bestandskatalog der Berliner RoentgenSammlung) inklusive DVD 24,80 €.

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