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Flechten ist immaterielles Weltkulturerbe.

© Christian Krug

Museum Europäischer Kulturen: Mit allem verwoben

Das Museum Europäischer Kulturen würdigt die Kunst des Flechtens - auch in ökologischer, gesellschaftspolitischer und kolonialistischer Hinsicht.

Eine Brücke aus Luftwurzeln. Klingt ein wenig absurd, ein Fantasy-Gebilde vielleicht. Als Überführung auf jeden Fall nicht besonders vertrauenerweckend. Dabei bringen „Living Root Bridges“ die Menschen in Nordost-Indien seit über Tausend Jahren sicher über Flüsse oder Schluchten. Mit einem ausgeklügelten Flechtsystem werden Luftwurzeln, die von bis zu 40 Meter hohen Gummibäumen herab wachsen, über Jahrzehnte und von mehreren Generationen vor Ort zu stabilen Bauwerken verflochten.

Flechten als museales Thema? Eine fabelhafte Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen stellt nun unter Beweis, dass die Jahrtausende alte Kulturtechnik alles andere als ein alter Zopf ist. „All Hands on: Flechten“ präsentiert das von der Unesco als immaterielles Kulturgut anerkannte Handwerk anhand von mehr als 200 Alltags-, Design- und Kunstobjekten. Facettenreiche Hintergründe stellen die technischen Entwicklungen und die Historie der Materialen nicht nur fachlich dar, sondern beleuchten ebenso ökologische, gesellschaftspolitische und kolonialistische Aspekte (Museum Europäischer Kulturen, Dahlem, Arnimallee 25, bis 26. Mai 2024; Di – Fr 10 bis 17 Uhr, Sa/So 11 bis 18 Uhr).

Ein Hirtenmantel hängt neben Haute Couture

Der Bogen reicht von dem Gefäß, das vor rund 3000 Jahren in Ägypten umflochten wurde bis zu Stents aus Metalldraht, die in der modernen Medizin implantiert werden. Es gibt spannende Geschichten wie die vom Nest des Webervogelmännchens oder der Symbolwerdung des Peacock Chairs für die Black Lives Matter-Bewegung und warum sich Stars wie Beyoncé oder Missy Elliott darin inszenieren. Ein Hirtenmantel, um 1900 aus Gras geflochten, ist neben Haute Couture von Dolce&Gabbana zu sehen.

Auch die Sitzmöbel der ersten Flugzeuge waren aus Flechtwerk – denn das hat die Eigenschaft leicht, flexibel und stabil zugleich zu sein. Außerdem ist es bis heute im Wortsinne Hand-Werk. Maschinen können lediglich Flechtmuster imitieren und nur mit künstlichen Materialien arbeiten. „Sogar die Künstliche Intelligenz scheitert an den natürlichen Unebenheiten von dreidimensionalen Körben oder Lampenschirmen,“ sagt Sofia Botvinnik, die die Ausstellung mit Judith Schühle kuratiert hat. Echtes Handwerk steckt selbst in massenfabrizierten, wenige Euro kostenden Körben. Oft von Menschen in Südostasien gefertigt, womit das Thema Ausbeutung auf den Plan kommt.

Blick in die Ausstellung
Blick in die Ausstellung

© David von Becker

Die internationalen Flechter:innen, deren Werkstücke vorgestellt werden, kennen die Kuratorinnen persönlich, betont Botvinnik. Flechtwerkgestalter:innen lautet die heutige Bezeichnung des Ausbildungsberufs, der früher unter Korbmacher subsumiert wurde. Das generische Maskulinum ist hier beabsichtigt; zeigen doch Fotografien der Staatlichen Berufsfachschule im bayerischen Lichtenfels eine reine Männerdomäne im Jahre 1910, während die zehnköpfige Abschlussklasse 2018 von neun Frauen dominiert wird.

Welche Aktualität der traditionellen Technik abgewonnen werden kann, zeigen Upcycling-Objekte wie der Korb aus Wim Wenders „Paris, Texas“ – den die Designerin Waltraud Münzhuber kunstvoll aus dem VHS-Band gefertigt hat - oder die Skulptur „Spinning Towards a New Normal“ von Nathalie Miebach: Farbenfrohe Stoffröhrengeflechte umranken einen Rattankorb, aus dem Holzstäbe mit kleinen Kugeln und beschrifteten Würfelchen hervorstaken. Ein freundliches Stachel-Wesen, das sich als dreidimensionales Modell weltweiter Corona-Statistiken entpuppt.

Sisal, Hanf und Espartogras

Dass das binäre Prinzip digitaler Technologien Analogien zum Flechten aufweist, können Besucher:innen an einer raumhohen Installation beim „Nachrichten verflechten“ ausprobieren. Eine von zehn interaktiven Stationen, die Materialien sowie Techniken im besten Sinne be-greifbar machen. An anderen wird die Komplexität des Muster-Flechtens erfahrbar, wie sich Espartogras (Bestandteil der beliebten Espadrilles) anfühlt oder Sisal und Rattan.

Wie eng deren Geschichte mit dem Kolonialismus verflochten ist, davon zeugen historische Fotografien und Dokumente ebenso wie die überaus beeindruckende Installation „The Green Gold“ der kenianisch-deutschen Multimedia-Künstlerin Syowia Kyambi.

Dass das Ausstellungskonzept trotz der Material- und Medienfülle aufgeht, ist nicht zuletzt der klugen inhaltlichen und ästhetischen Gestaltung zu verdanken. Anstelle einer Chronologie von der Weide bis zum Korb wird das humanitäre Phänomen des Flechtens anhand der Kapitel Mensch, Schutz, Material und Muster untersucht, seine regionalen Ausprägungen und globalen Beziehungsgeflechte.

So erforschen Baubotaniker der TU München die Ingenieurskunst der eingangs erwähnten Lebendwurzelbrücken. Noch nimmt sich die innovative und nachhaltige Architektur wie Zukunftsmusik aus. Beim Wettbewerb für das Berliner Futurium wurde ihr Entwurf schon mal mit dem zweiten Platz ausgezeichnet. Einfache Prototypen von Baubotanik, die Schüler*innen aus Weide gestaltet haben, können im Museumsgarten bestaunt werden.

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