zum Hauptinhalt
Die beiden hervorragenden Mimen Winnie Huang und Diego Vásquez.

© Berliner Festspiele/Adam Janisch

Musikfest Berlin: Sonnenfinsternis in der Philharmonie

Mit Karlheinz Stockhausens „Inori“ endet das Musikfest Berlin. Zeitgenössisches triumphiert, Klassiker bleiben hingegen oft in der Routine stecken. Eine Bilanz.

Peter Eötvös schaut das Publikum beim Begrüßungsapplaus nicht an, wendet ihm dem Rücken zu. Die Zeremonie hat bereits begonnen, soll das wohl heißen, halten wir uns also nicht mit Nebensächlichkeiten auf. Ans Werk! Das Werk ist in diesem Fall Karlheinz Stockhausens ob seiner überbordenen logistischen Ansprüche sehr selten aufgeführtes Orchesterstück „Inori“, was auf Japanisch „Anbetung“ heißt. Gerade war es beim Lucerne Festival zu hören, jetzt gastieren die jungen Musikerinnen und Musiker der Lucerne Festival Academy damit in der Philharmonie. Und beschließen mit diesem, ja doch, Ereignis das Musikfest.

Die erste Viertelstunde: Nur einzelne Töne und Akkorde, die im Saal hängen und sich kaum zur Melodie verbinden. Lauter Setzungen, lauter Ausrufezeichen, aneindergereiht wie Zinnsoldaten. Stockhausen schöpft die Klangfarbenmöglichkeiten und den dynamischen Rahmen so tief wie möglich aus, seine Partitur sieht allein 60 verschiedene Lautstärkegrade vor. Das Orchester ist gewaltig. Verdoppelt und verdreifacht. Zwei Vibrafone. Vier Trompeten. Zwei mal vier Hörner – im Wortsinn unerhört. Und über allem schweben die Tautropfentöne von 16 chromatisch gestimmten Rin, das sind Metalltassen, die in japanischen Tempelzeremonien zum Einsatz kommen. Stockhausen, der Synkretiker.

Die Geburt der Musik

Peter Eötvös hat 1974 miterlebt, wie der Meister auf den Küchentisch steigt und das Werk komplett, 75 Minuten lang, seinen Jüngern vorsingt. Heute ist er einer von nur zwei Dirigenten, die „Inori“ aufführen können, denn die Gestik am Pult ist genauso exakt vorgeschrieben wie die der beiden Mimen, die den Klang ins Körpersprachliche überführen. Ihr Aktionsraum befindet sich direkt über Eötvös auf einem Podium, für den Dirigenten nicht sichtbar. Umso beeindruckender die Koordinationsfähigkeit und Gedächtnisleistung von Winnie Huang und Diego Vásquez, er in Schwarz, sie in Weiß: Yin und Yang. Mit ihren filigran fließenden, völlig parallel ausgeführten Bewegungen verstärken sie den Ritualcharakter der Aufführung.

Natürlich verharrt „Inori“ nicht im statischen Zustand des Beginns, es wird komplexer, die Stimmen durchwirken sich gegenseitig. Eine Geburt wird hier erzählt, von der Entstehung der Musik selbst, die Genese von Dynamik, Tempo, Rhythmus, Klangfarben. Energieströme bauen sich auf, streben einem ekstatischen Überwältigungsmoment zu, an dem auch die beiden Mimen ihre Arme weit in die Höhe recken. „Inori“ ist eine Schöpfungsgeschichte, allerdings eine inversive, sie fängt in der Ordnung an und gipfelt im Chaos. In seiner Monumentalität wirkt das fast bruckneresk, es ist spirituell, enigmatisch, mysteriös. Wer in dieser „Anbetung“ überhaupt angebetet wird, und von wem, das sollte man besser offen lassen. Stockhausen nimmt dieses und jenes, rührt es zusammen, das Ergebnis hat nichts Sperriges, nichts Beliebiges. Der Enthusiasmus und die Leidenschaft gerade dieses jungen Orchesters beglaubigen das Stück.

Schließlich verlassen die beiden Mimen den Saal, gehen ins Licht, begleitet von einem minutenlangen, grillenzirpenähnlichen Geräusch, dem Rasseln eines indischen Schellenkranzes. Am Ende ist alles Natur, selbst bei Stockhausen. Udo Badelt

Aufwändige, selten gespielte Stücke bilden das Herz des Festivals

Lag es nur am Wetter, dass bei der diesjährigen Ausgabe des Musikfests jede Menge Plätze frei blieben? Braucht es, um Lust auf den Auftakt zur neuen Klassiksaison zu verspüren, tatsächlich Regen, grauen Himmel und Herbststürme, die um die Philharmonie pfeifen? Treue Kunden der Berliner Festspiele buchen ihre Karten bereits, wenn noch gar nicht abzusehen ist, welchen Sommer wir bekommen. Und Berlin-Besuchern bietet das Musikfest die Chance, spontan (es gibt ja noch Tickets) mal die Heimstätte der Philharmoniker zu besuchen. Das kann man zu den klassischen Höhepunkten der Spielzeit vergessen. Was am Musikfest-Abend gespielt wird, gleicht für diese Klientel einer Wundertüte. Warum aber reicht das trotzdem nicht aus, um einen Festival-Sog zu entfachen, dem sich die Stadt nicht entziehen will, selbst wenn die Sonne noch scheint?

Was das Musikfest versucht, ist aller Ehren wert: Die großen internationalen Orchester sollen mit ihren Chefdirigenten in Berlin nicht nur einfach Station machen. Sie sollen möglichst auch etwas mitbringen, was nicht allein den klassischen Tournee-Paradestücken entspricht. Aufwändige, selten aufgeführte Stücke bilden das eigentliche Herz des Festivals. Schlüsselwerke der jüngeren Musikgeschichte, die noch nicht im Standard-Repertoire angekommen sind und dies vielleicht auch niemals schaffen werden. Dieses Jahr bugsierte Musikfest-Chef Winrich Hopp Kompositionen von Bernd Alois Zimmermann ins Programm – und siehe: Sie hinterließen allesamt einen starken Eindruck, erfuhren unmittelbaren Zuspruch. Dagegen hatten die Bruckner-Interpretationen in den gleichen Abendprogrammen sowohl beim Gastspiel aus Rotterdam als auch dem aus München deutlich weniger zu sagen. Aber auch Werke von Stockhausen, Boulez und Spahlinger konnten begeistern, während bei Strawinskys „Sacre“ (dirigiert von Daniel Barenboim) und Mahlers Dritter (mit Andris Nelsons) deutlich wurde, wie fatal es sein kann, wenn Komponisten in der Mitte des Konzertbetriebs angekommen sind. Routine ist der Tod lebendiger Musik. Und: Orchester sind sensible Gebilde, wie man dem Concertgebouw Orchestra nach dem Rauswurf ihres Chefs deutlich anhörte.

Beim Musikfest kann man auch Musik hören, die man beinahe so selten live erleben kann wie eine totale Sonnenfinsternis. Damit geht das Festival wahrlich nicht hausieren. Programmgestalter Hopp pflegt eine intellektuelle Musikdiplomatie, er hat stets Kluges zu auch disparat erscheinenden Zutaten zu sagen. Dabei hängt das Programm auch von der Leidenschaft des Kooperationspartners Stiftung Berliner Philharmoniker (künftig zum Glück mit Kirill Petrenko) und den Orchestern der Stadt ab. Vielleicht ist es dies, was über die Enttäuschung einiger großer Gastspiele hinausreicht – die Erkenntnis, dass die Musikstadt Berlin aufregender ist als ihr Aushängeschild Musikfest. Denn das haben auch die vergangenen Jahre gezeigt, egal wie der Sommer ausfiel: Außergewöhnliche Produktionen finden ihr Publikum, während deren Abfederung mit Standardwerken den Saisonstart nur unnötig verzögert. Ulrich Amling

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false