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Alice Miller.

© Julika Miller/Suhrkamp/dpa

Nachruf: Alice Miller: Die Schutzpatronin

Die Nachricht von ihrem Tod wirkt, als hätte sie endlich in Ruhe gehen können. Denn die Anliegen, für die Alice Miller viele Jahrzehnte lang kämpfte, sind auf einmal in aller Munde.

Von Caroline Fetscher

Die Nachricht von ihrem Tod wirkt, als hätte sie endlich in Ruhe gehen können. Denn die Anliegen, für die Alice Miller viele Jahrzehnte lang kämpfte, sind auf einmal in aller Munde. Viele, fast alle Kinder, davon war die Schweizer Psychologin, Soziologin und Therapeutin überzeugt, erfahren durch Erwachsene Herabsetzung, Ignoranz und Gewalt. In allen Gesellschaften und allen Schichten existiere dieses Phänomen, so schrieb und sagte es die 1923 im damals polnischen, heute ukrainischen Lemberg geborene Vorkämpferin der Kinderrechte, wann immer sie konnte.  Werde ein Kind geschlagen und seelisch verletzt, dann lerne es zu schlagen und zu verletzen, „während das beschützte und respektierte Kind lernt, Schwächere zu respektieren und zu beschützen“. Kinder ahmen nach, was sie erfahren, das ist ihre kulturelle Fähigkeit, dazu sind sie, allesamt, begabt. Mit dem 1979 erschienenen Buch „Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst“, das diese Erkenntnis schilderte, gelang Alice Miller ein in rund 30 Sprachen übersetzter Bestseller. 

Für heutige Ohren klingen ihre Thesen einleuchtend. Ein Echo von ihnen wird auch am aktuellen Runden Tisch zur Prävention von Kindesmissbrauch nachhallen. Doch Miller, die in Basel studierte, musste damals Gebirge theoretischen Gerölls beiseite schieben, um zu ihren Einsichten zu gelangen. Hart ging sie mit den gängigen Paradigmen der Psychoanalyse ins Gericht, 1988 verließ sie die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse sowie die Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Denn Miller glaubte den Opfern. Misshandlungen und Missbrauch, von denen ihr erwachsene Patienten berichteten, entsprangen so gut wie niemals deren Fantasien, wie von der klassischen psychoanalytischen Triebtheorie postuliert, sondern leider sehr realen Erfahrungen.

Ohne Reflexion oder Therapie würden aus den früh deformierten Kleinen, so Miller, jene rachsüchtigen, verhärteten Großen, die Gewalt und Kälte in die nächste Generation tragen. Im ärgsten Fall, wenn negative Einflüsse sich häufen, produzieren solche Biografien Sexualstraftäter, Terroristen, sogar Diktatoren. Auf dieser Folie las Alice Miller auch die von toxischer Grausamkeit verheerte Kindheit Adolf Hitlers. Noch Anfang 2004 analysierte sie im „Spiegel“ unter der Überschrift „Mitleid mit dem Vater“ die plötzlichen Emotionen für den gestürzten Tyrannen Saddam Hussein. Ein solcher Typus, mahnte sie, werde Macht stets destruktiv missbrauchen, „denn sein eigentliches, unbewusstes, hinter allen bewussten Aktivitäten verborgenes Ziel bleibt unverändert: die in der Kindheit erfahrenen und verleugneten Demütigungen mit Hilfe der Macht ungeschehen zu machen“. Nach den Zerfallskriegen Jugoslawiens interessierten sich auch slowenische und andere ex-jugoslawische Psychologen für Millers Erkenntnisse.

Während ein breites Publikum Alice Miller folgte, stieß sie gleichwohl auch auf hartnäckigen Widerstand nicht nur in der Fachwelt, ein Widerstand, dem sie gelegentlich mit dem nahezu sektiererischen Eifer der Verzweifelten begegnete: das Drama dieser hochbegabten Therapeutin. Hoffnung hegte sie dennoch, auch angesichts der Forschungen zum kindlichen Gehirn, die wissenschaftlich fundierte Daten zu Langzeitfolgen von Gewalt liefern. „Man wird in Zukunft unmöglich behaupten können, dass das Schlagen unschädlich ist“, erklärte sie dazu 1999 in einem Interview. Wie der Suhrkamp-Verlag jetzt bekannt gab, starb Alice Miller, die ihre letzten Lebensjahre in der Provence verbrachte, bereits am 12. April im Alter von 87 Jahren.

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