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Nachruf: Erinnern lehren

Er kritisierte nicht nur Israel, sondern auch immer wieder die aggressive Großmachtpolitik der USA nach dem 11. September. Zum Tod des britischen Historikers Tony Judt.

Es ist bezeichnend, und es dürfte ihn als Betroffenen genauso bestätigt wie verwundert haben, dass Tony Judt in dem Moment zu einer Berühmtheit über seine Historiker-Zunft hinaus wurde, als er sich erstmals überaus kritisch mit Israel auseinandersetzte. 2003, damals war Judt schon Direktor des Erich Maria Remarque Institute an der New York University, setzte er sich in Essays für die „New York Review of Books“ und „Le Monde Diplomatique“ für einen binationalen, israelisch-palästinensischen Staat ein. Darin bezeichnete Judt den Staat Israel unter anderem auch als „Anachronismus“, weil er seine Bürger aufgrund ethnisch-religiöser Kriterien benennt und beurteilt, „wir aber in einer Welt leben, in der Staaten und Völker immer enger miteinander verflochten sind, (...), in der immer mehr Menschen komplexe, frei wählbare Identitäten entwickeln und sich, wolle man sie auf nur eine Identität festlegen, unziemlich eingeschränkt fühlen würden.“

Judt musste sich mit Vorwürfen auseinandersetzen, die von „naiv“ bis „antisemitisch“ reichten. In den folgenden Jahren sollte sich die Kontroverse über seine Positionen immer wieder zuspitzen. 2006 konnte er zwei Vorträge in den USA über den Einfluss der Israel-Lobby auf die amerikanische Politik nicht halten, weil jüdische Organisationen heftigst dagegen protestierten. Auch ein Jahr später gab es Proteste, als er in Bremen den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhalten sollte. Judt verbreite „die offizielle palästinensische propagandistische Sicht auf die Geschichte“, hieß es in einem Offenen Brief der Bremer Jüdischen Gemeinde, was Judt in seiner Dankesrede damit konterte, dass man „Zyniker“ heranziehe, „wenn wir jedes Mal, wenn jemand Israel angreift oder die Palästinenser verteidigt, ,Antisemitismus’ schreien“. Und weiter: „Wir haben die Erinnerung an den Holocaust so fest mit der Verteidigung Israels verbunden, dass wir Gefahr laufen, die moralische Bedeutung dieser Erinnerung zu schmälern und sie zu provinzialisieren.“

Über diese Kontroverse schien es fast in Vergessenheit zu geraten, dass Tony Judt erst zwei Jahre zuvor mit „Postwar: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ eine brillante, Sozial- und Geistegeschichte verbindende Studie über die Nachkriegszeit und eine an ihr Ende gekommene Epoche vorgelegt hatte. Darin legt Judt auch dar, dass die Erinnerungen an den Holocaust die Humanität des heutigen Europas garantierten und diese in Ländern wie Frankreich, Österreich oder Polen identitätsstiftend seien: „Und wenn sie nicht mehr erinnert werden können, müssen sie gelehrt werden.“

Im Fall Israels aber sprach er von einer „Pervertierung“ der Erinnerung. Was Judt vielleicht auch deshalb in aller Härte so ausdrückte, weil er selbst jüdische Wurzeln hat: Geboren wurde er 1948 in London als Sohn einer Mutter mit russisch-jüdischem Hintergrund und einem belgischen Vater. Beide beschrieb er in seinem 2009 auf Deutsch erschienen Essayband „Das vergessene 20. Jahrhundert“ als „vehemente Antikommunisten“ und „Vertreter jenes Zweigs des osteuropäischen Judentums, der die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als seine Heimat betrachtet.“

Judt wuchs im Haus seiner Großeltern mit jüdischer Kultur auf, besuchte eine hebräische Schule und lebte ein Jahr lang in einem Kibbuz in Israel. Politisch sympathisierte er fortan mit dem Marxismus, entwickelte sich dann aber wie seine Eltern zu einem Antikommunisten mit Faible für die Errungenschaften der Sozialdemokratie. Nach seinem Abschluss an der Universität Cambridge wandte er sich der Europäischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert zu, veröffentliche Bücher über die moderne französische Linke, ihre Beziehung zum Marxismus oder, 1996 auch in Deutschland erschienen, über die „Große Illusion Europa. Herausforderung und Gefahren einer Idee“.

Darüber hinaus aber kritisierte er nicht nur Israel, sondern immer wieder die aggressive Großmachtpolitik der USA nach dem 11. September. Judt diktierte selbst dann noch Aufsätze, als bei ihm 2008 eine progrediente Nervenerkrankung diagnostiziert wurde, die „Amyotrophe Lateralsklerose“, die ihn zum Schluss nur noch den Kopf bewegen ließ. „Ein Bündel toter Muskeln, das denkt“, gab er zu Protokoll. Erschütternd lesen sich denn auch die schonungslosen, um keine Einsicht verlegenen Krankheitsberichte, die er in den letzten Monaten für den „New Yorker“ verfasste. Am Freitag ist Tony Judt 62-jährig den Folgen seiner Nervenerkrankung erlegen. Gerrit Bartels

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