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Birgit Vanderbekes neuer Roman "Ich freue mich, dass ich geboren bin"

© promo

Neuer Roman von Birgit Vanderbeke: Das siebte Geißlein hat auch keine Chance

Kaputte Familie, Ost-West-Traumata, häusliche Gewalt: Birgit Vanderbekes Roman „Ich freue mich, dass ich geboren bin“.

Eigentlich war die Welt für dieses Mädchen lange in Ordnung. Es wurde von der Ost-Oma verwöhnt, während die Mutter als Lehrerin arbeitete. Der viel jüngere Vater, noch nicht reif für eine Familie, studierte, genoss das Leben und war meist abwesend. „Bis zu dem Tag, an dem ich meinen Vater ein für allemal kennenlernte ... Das Kennenlernen fing mit den Händen an und der Rest kam hinterher, und es war sehr unheimlich, weil es dunkel war und ich noch nicht sprechen konnte.“

Wieder einmal umkreist Birgit Vanderbeke, die mit „Muschelessen“ 1990 den Bachmann-Preis gewann, in ihrem neuen Roman „Ich freue mich, dass ich geboren bin“, eine aus dem Lot geratene Familie. Eines Nachts wird das Kind aus seinem Bett in der Ostprovinz gerissen, weil die Mutter von einem besseren Leben träumt und in den sechziger Jahren in den Westen abhaut. Nicht einmal von der Oma darf das Mädchen sich verabschieden. Es folgt der Aufenthalt in Flüchtlingsheimen, wo es Erwachsene findet, die sich seiner annehmen, und Kinder zum Spielen. Schließlich zieht die Familie in eine Dreizimmerwohnung in einer Werkssiedlung, mit der Aussicht auf langsamen sozialen Aufstieg.

Die Leere des Konsums

Doch für das Kind ist das „Land der Verheißung“ kein Paradies. Die aus der Perspektive des siebenjährigen Mädchens erzählte Geschichte beginnt mit einer Geburtstagsenttäuschung: Nicht nur liegt kein Kätzchen auf dem Gabentisch, sondern es muss sich schon wieder die Lügen der Mutter anhören: die ewig gleiche verlogene Geschichte vom Krieg, der ihr den Verlobten genommen habe und die Chance, Gutsbesitzerin mit wohlgeratenen Gutskindern zu werden. Das wiederum bringt den nur „Osch“ genannten Vater so in Rage, dass er seine Hände nicht mehr unter Kontrolle halten kann.

Das anfänglich nur angedeutete Drama der häuslichen Gewalt nimmt seinen jahrelangen Lauf. Darin eingeschlossen: die Wirtschaftswunderzeit, verbunden mit der Leere, die der Konsum hinterlässt. Denn was ist der auf Pump gekaufte Opel Kapitän gegen den edlen tannengrünen Admiral aus der Vorkriegszeit, mit dem die Gutsbesitzerfamilie hatte renommieren können? Man buckelt nach oben und tritt nach unten, in Richtung der italienischen „Gastarbeiter“, mit deren Kindern man seine eigenen nur spielen lässt, weil man dem Dreck ohnehin bald den Rücken drehen und aufsteigen wird.

Eine existenzielle Enttäuschung ist auch die Geburt des schwarzhaarigen wilden Mädchens. Sie ist nicht der kleine blonde Junge geworden, den sich die Mutter gewünscht hat. „Aber da steckt man nicht drin, und da habe ich eben Pech gehabt“, sagt diese. Und: „Ich habe dich aber trotzdem lieb gehabt“. Darauf das Mädchen zu sich selbst: „Lieber gar nicht lieb haben als trotzdem. Weil man bei trotzdem im Grunde nichts machen kann.“

Arsenal der Märchen und Mythen

Solche Szenen gehören zur Grundstruktur des Romans. Der oft genug scheiternden Gratwanderung, gerade Gewalterfahrungen aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, stellt sich Vanderbeke mit einer souveränen Kunstsprache und Bildern aus dem Arsenal der Märchen und Mythen. Die kleinen Kinder, die vor ihrer Geburt alles wissen, dann aber alles vergessen, werden aus einem „Teich der Ewigkeit“ geangelt. Oder das Mädchen stellt sich in ihrem Versteck vor den Schlägen des Vaters vor, es wäre das siebte Geißlein, das im Uhrkasten mitanhören muss, wie der Wolf die sechs übrigen frisst.

Die traumatische reale Flucht wiederholt sich in seiner Fantasie, um überleben zu können in einer Umwelt, die weder Gespräch noch Hilfe bereithält. Nicht einmal die schlecht verheilten Frakturen, die eine verständnisvolle Ärztin im Nachhinein feststellt, veranlassen die Mutter, sich schützend vor ihre Tochter zu stellen. „Bitte nicht ins Gesicht“, sagt sie nur, wenn ihr Mann sie selbst verprügelt. Das Lesen bietet schließlich einen Ausweg aus der gewienerten gewalttätigen Teakholzwelt. Wie bei Jules Verne versetzt das Mädchen sich dabei in eine Zeitmaschine und beamt sich 40 Jahre weiter. Hier kann es „Bescheid sagen“, damit ihm jemand hilft. Die Stimme der erwachsenen Frau sagt ihr, wie sie eigentlich zu handeln hätte, dass sie sich wehren muss oder weggehen sollte. Dass Birgit Vanderbeke dabei eher andeutet als ausbuchstabiert, ist eine der Qualitäten dieses engagierten Romans, der am Ende eine, wenn auch nur in der Fantasie erprobte Lösung bereithält.

Birgit Vanderbeke: Ich freue mich, dass ich geboren bin. Roman. Piper Verlag, München 2016. 153 Seiten. 18 €

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