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Julian Barnes.

© Foto: dpa/SWR/Kiepenheuer&Witsch/Urszula S

Neuer Roman von Julian Barnes: Das Leben ist schon komisch

Der Erfolgsautor Julian Barnes erzählt in „Elizabeth Finch“ eine wunderbar romantisch-stoische Liebesgeschichte.

Als „König der unvollendeten Projekte“ hat ihn sein Lieblingskind einmal bezeichnet, die Tochter war damals im Teenageralter, und noch immer findet sich Neil in der gewitzten Formulierung treffend charakterisiert. Ob auch Ehen als Projekte durchgehen dürfen? Das fragt er sich manchmal. Zwei hat er bereits hinter sich, mit insgesamt drei Kindern, eines sogar ganz ohne Ehe. Wie alt Neil, der Erzähler, genau ist, erfahren wir nicht.

Das changiert ein bisschen, wie vieles im neuen Roman von Julian Barnes. „Elizabeth Finch“ bringt mit assoziativer und aphoristischer Verve ein Gedankenkarussell in Schwung, das von verschiedenen Formen der Liebe bis hin zu Fragen von Religion, Macht und Herrschaft alles Mögliche streift.

Natürlich geschieht das auf höchst eigenwillige Weise, wie man das von dem 1946 in Leicester geborenen Briten erwarten kann. Seit seinem Roman „Flauberts Papagei hat man ihn als postmodernen Romancier einsortiert, der gelegentlich über die eigene Klugheit stolpert, aber immer wieder Romane hervorbringt, die ein großes Publikum beglücken. Den Booker Prize bekam Barnes erst beim vierten Anlauf, 2011, für seinen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ („The Sense of an Ending“). Drei Nominierungen hatten nicht zum erhofften Erfolg geführt, darunter die 1984 für „Flauberts Papagei" – in diesem Jahr erhielt die Außenseiterin und späte Debütantin Anita Brookner den Preis.

Die titelgebende Elizabeth Finch ist eine außergewöhnliche literarische Figur. Das merkt man sofort, obwohl man zunächst nur ahnt, woran das liegen könnte. Äußerlich ist „EF“, wie sie immer wieder abgekürzt wird, eher unauffällig: solides Schuhwerk, knielange Röcke, oft marineblau, im Winter Tweed, gelegentlich Schottenkaro, Bluse, Brosche. Sie entspricht einem Frauentypus, der früher gedankenlos mit Vokabeln wie „Blaustrumpf“ oder „alte Jungfer“ abgewertet wurde.

Mit der ausgefuchsten Strategie einer fast ergebenen Form des Understatements umkreist Barnes seine Hauptfigur. Neil, der Erzähler, war einmal Student bei Finch, sie war seine Professorin. Wir erfahren nicht, welches Fach sie unterrichtete, aber immerhin, wie sie sich zu Beginn eines Seminars mit dem Titel „Kultur und Zivilisation“ zur Geltung brachte: „Sie stand vor uns ohne Notizen, Bücher oder Anzeichen von Nervosität. Das Pult war mit ihrer Handtasche belegt. Sie schaute in die Runde, lächelte, schwieg und begann.“ Sie versprach „kollaboratives Lernen“, Dialog im Sinne der alten Griechen und „rigorosen Spaß“. Die Zuhörerschaft war sofort gespalten, erinnert sich Neil, „einige verwirrt bis verärgert, andere bereits halb verliebt.“

Julian Barnes konstruiert eine Frauenfigur, die nicht sexualisiert wird und zugleich ein gehöriges Attraktionspotential entwickelt. Während Elizabeth Finch vor unseren Augen in Neils Erinnerung entsteht, ergründet er Tugenden wie Ernsthaftigkeit, intellektuelle Redlichkeit, Klarheit und moralische Integrität. Das klingt altmodisch? Es sieht ganz so aus, als sei der vergrübelte, sich mühsam durchs Leben kämpfende Ich-Erzähler genau dafür da, den Sinn überzeitlicher Tugenden herauszukitzeln. Er war mal Schauspieler, er war mal Kellner, und er hat sich jahrelang zwei, drei Mal im Jahr mit Elizabeth Finch im Restaurant zum Mittagessen getroffen – kaum mehr als eine Stunde, immer bezahlte sie. Nach ihrem Tod erbte er ihre Notizhefte und Bücher.

Was fängt er nur damit an? Soll er ihre Biografie schreiben? Er weiß, das hätte sie abgelehnt. Oder soll er endlich die Enttäuschung wettmachen, die er ihr am Ende seines Studiums bereitete, als er keine Abschlussarbeit zustande brachte?

Also destilliert er aus den kryptischen Aufzeichnungen seiner Professorin eine Art Auftrag heraus. Er schreibt über Flavius Claudius Iulianus, den letzten römischen Kaiser, der sich gegen das Christentum stemmte. Monotheismus, überhaupt jede Form der Monokultur war Elizabeth Finch verhasst. Sie liebte die zivilisierende Wirkung von Künstlichkeit und vertrat die Ansicht, dass sich Authentizität nur künstlich herstellen lässt.

Der Mittelteil des in drei Kapitel unterteilten Romans besteht aus Neils Aufsatz über Julian und dessen verschlungene Wirkungsgeschichte, die mit den französischen Moralisten und der Aufklärung nach jahrhundertelanger Verfemung eine positive Wendung nahm. Wie ein unbehauener Felsbrocken bildet der gedanklich unausgegorene Essay das Zentrum des Romans.

Dieser kühn-spröde Roman zeigt auch, wie die Wortwahl einen Menschen charakterisiert.

Meike Fessmann

Eine schöne Ironie, dass Barnes seinen Erzähler dazu bringt, den Aufsatz gleich nach der Fertigstellung in der Schublade verschwinden zu lassen. Gleichwohl lässt er uns mit Neil darüber nachdenken, wie die letzten fünfzehn Jahrhunderte ohne Religionskriege ausgesehen hätten. Wie vielen Menschen wäre ein gewaltsamer Tod erspart geblieben? Und wie sähe die Gegenwart aus, ohne die jahrhundertelang praktizierte Verfolgung von Juden und Muslimen?

Neil schreibt seinen Aufsatz, „um den Toten Freude zu bereiten“, worin er etwas anderes erkennt, als sie nur zu ehren (damit mache man sie „irgendwie noch toter“). Wie in „Lebensstufen“, dem Buch, in dem Barnes mit geradezu protokollarischer Genauigkeit von der Seelenverwüstung erzählt, die der Tod seiner Frau Pat Kavanagh in ihm anrichtete, spielt auch hier – wie in seinem ganzen Werk – der Tod eine wichtige Rolle.

Es ist auf fast groteske Weise faszinierend, wie Julian Barnes mit der eher schroffen Methode seines verdichteten, verzettelten, fragmentierten Erzählens einen Romankosmos entstehen lässt, in dem selbst Nebenfiguren ihr Eigenleben entwickeln können. So wie Christopher Finch, Elizabeths älterer Bruder, der sich sein Leben lang der klügeren jüngeren Schwester unterordnete und mit dem Neil nach deren Tod eine Art Freundschaft verbindet.

Klar im Denken, minimale poetische Gesten, das prägt die Titelfigur

Christopher Finch besticht durch seine überhaupt nicht auftrumpfende Besonderheit. Als Neil ihn einmal fragt, warum er der Schwester nie sagte, dass er zum Mittagessen gern Wein trinken würde, antwortet er, dass er sich darüber gefreut habe, dass sie eben „auch nicht alles“ wusste. „Und seltsamerweise habe ich sie deshalb noch mehr geliebt. Das Leben ist schon komisch, findest du nicht?“

Barnes gelingt ein perfekter Balanceakt. Er will Elizabeth Finch auf keinen Fall als „Frau mit Geheimnissen“ darstellen. Aber er erfindet ein wiederkehrendes Bild, das einer Erinnerung ihres Bruders entspringt. Dieser sah, wie sie sich vor ihrer Verabredung auf der Straße von einem Mann in einem doppelreihigen Mantel verabschiedete. Sie legte ihre Handflächen auf seine, ging auf die Zehenspitze und hob ein Bein nach hinten an. Als der Bruder fragte, wer der Mann war, antwortete sie „niemand“.

Im Wechsel zwischen Neils Außenperspektive und ihren Notizbüchern entsteht eine Figur, die ihren Zauber durch minimale Gesten der Poetisierung erlangt und zugleich so knallhart und klar im Denken ist, dass sie als „Stoikerin“ und „Feministin“ erkennbar wird. Welch reduktive Art über Frauen zu sprechen, wenn man sie über die Ehe oder ihre Ehelosigkeit definiert, schreibt sie einmal.

Wie die Wortwahl einen Menschen charakterisiert, zeigt dieser kühn spröde Roman, der aus dem Zusammenspiel weit voneinander entfernter Details einen über sich hinausweisenden Hallraum erschafft. Wenn man einer kleinen Andeutung von Barnes in einem Interview folgt, stößt man auf Anita Brookner, die Konkurrentin um den Booker Prize 1984. Als sie 2016 mit 87 Jahren starb, schrieb Barnes einen Nachruf, der viele Details enthält, die auch in „Elizabeth Finch“ auftauchen. Der Eisele Verlag übernahm Barnes’ Nachruf als Vorwort der deutschen Übersetzung ihres Debütromans „Ein Start ins Leben“.

Was für ein Eigensinn, was für eine Entdeckung: diese umwerfend kühle, klare, messerscharfe und zugleich melancholische Prosa einer späten Schriftstellerin, die als Tochter polnischer Juden erst mit vierzig Jahren aus der Londoner Wohnung ihrer Eltern auszog.

„Elizabeth Finch“ ist ein völlig eigenständiger Roman. Doch man darf Elizabeth Finch und Anita Brookner gemeinsam bewundern – und Julian Barnes gleich dazu. Er hat eine neue Gattung von Liebesroman erschaffen, den Roman einer „romantisch-stoischen Liebe“ intellektueller Attraktion.

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