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Kultur: Nomaden im Speck

Wohin die Reise geht: Der Mensch hört nicht auf, sich Paradiese zu suchen. Und überall lauert die Moral

Was unterscheidet einen Touristen von einem Reisenden? Das Hotelzimmer? Dass der eine seine Habseligkeiten in einen Koffer stopft, während der andere einen Rucksack bevorzugt? Ist es die Unstetigkeit oder das Wissen um die kulturellen Eigenheiten der Region, das sie trennt? Der amerikanische Schriftsteller Paul Bowles gelangte zu einer anderen Ansicht. Er, der nach Nordafrika und durch die Wüste gereist war, bevor er für immer in Tanger hängen blieb, sah in jedem Touristen einen Aussteiger auf Zeit. Nur der Reisende kenne den Moment nicht, an dem seine Unternehmung ende, schrieb Bowles in „Himmel über der Wüste“. Und so ließ er seine Heldin nach dem Typhustod ihres Mannes sich in der undurchdringlichen Welt der Tuareg verlieren. Aus der kultivierten Großstadtdame, die in der Sahara eine Antwort auf ihre Sinnkrise zu finden hoffte, wurde ein zutiefst verstörtes Geschöpf.

Hätte sie sich nicht auf den Weg machen sollen? Oder folgte sie den falschen Motiven? Bowles literarisches Meisterwerk von 1948 schilderte früh die Gefahren, die dem aufgeklärt-wohlhabenden Westler außerhalb seiner Zivilisation drohen. Lange bevor der Massentourismus das Unterwegssein revolutionierte und aus einem luxuriösen Zeitvertreib für industrialisierte Oberschichten eine Volksbewegung machte, heroisierte der Autor den Jedermann-Aufbruch als einen Akt existenzieller Selbstbefreiung. Mit seinem Bekenntnis für das ziellose Umherschweifen war Bowles ein Gründervater der Beatnikliteratur, aber auch des alternativen Rucksacktourismus, wie er seit zwanzig Jahren noch die entlegensten Erdteile für „Individualreisende“ erschließt.

Heute wird dasselbe Niemandsland, in dem Bowles’ Protagonistin den Verstand verlor, von Tausenden durchquert, die kein Zurück mehr kennen. Die Armutsflüchtlinge sind das düstere Gegenbild zum Massentourismus, der in die Elendsgebiete ausschweift. Und es ist kein Zufall, dass Bruce Chatwin, ein anderer Philosoph des Reisens, ebenfalls bei den Söhnen der Wüste sein Lebensthema fand: die Ursprünge des Nomadentums. Für ihn stellten sie, wie für jeden sesshaften Europäer, eine dämonische Kraft dar: „Offensichtlich sind wir die ruheloseste Spezies auf unserem Planeten“, erklärte Chatwin gegenüber Michael Ignatieff. „Es scheint sehr wichtig zu sein, diese Ruhelosigkeit in den Griff zu bekommen, damit sie uns nicht auf zerstörerische Weise außer Kontrolle gerät.“

Tatsächlich erscheint uns die Welt nicht eben sicherer, je ausgiebiger wir sie bereisen. Das macht uns die jüngste Naturkatastrophe in Südostasien schlagartig klar. Wie viele Länder sollten überdies gemieden werden, weil sie aus politischen Gründen zu gefährlich sind? Verschleppungen, Erpressungen, Raubüberfälle – der Vergnügungsreisende ist ein beliebtes Opfer. Und in fast jedem Fall, sind es unterschwellige Völkerwanderungen und Vertreibungskonflikte, die die Gewalt gegen den Eindringling befeuern. Und umgekehrt: Waren nicht Kuba und Nicaragua einmal politische Traumziele?

Seit Tagen geistert ein „Bierbauch- Gaffer“, der am Strand von Patong in Thailand offenbar in aller Seelenruhe Urlaub macht, durch die Boulevard-Presse. Im Hintergrund sind noch die geborstenen, von der Flutwelle zusammengeschobenen Trümmer zerstörter Hotelanlagen zu erkennen. Die Empörung ist groß. Dabei berührt die aktuelle Debatte über die Grenzen der Pietät ein altes moralisches Dilemma: Darf man sich zum Spaß in Regionen begeben, in denen die Menschen ums Überleben kämpfen?

Thailand galt lange als Traumziel einer kleinen Rucksack- und Sandalen-Elite, die dem romantischen Ruf nach der perfekten, sorgenlosen Robinsonade folgten. Auch von Alex Garlands Paradies- Thriller „The Beach“, in dem der Hippie- Strand zur blutigen Albtraumkulisse mutiert, ließ sie sich nicht einschüchtern. Dabei wollen die backpacker alles anders machen als Pauschaltouristen und die Kunden einschlägiger Massage-Salons – und Geld sparen. Gegen den Überfluss an Konsumgütern, wie er sich in den Club-Resorts und Hotelburgen der touristischen Zentren austobte, setzten sie die Kargheit ihrer Ausstattung. Gegen die Künstlichkeit einer makellosen Servicekultur die freiwillige Reduzierung des Lebensstandards. Indem ursprünglich alternative Reiseführer wie „Lonely Planet“, „Rough Guide“ oder „Richtig reisen“ auf Verständnis für die kulturellen Eigenheiten der Länder bauen, etablieren sie einen Tourismus by fair means, an dem die Einheimischen mitverdienen. Doch auch dieses Prinzip ist längst ins Stadium der Massenverwertung eingetreten.

Es ist nicht alles richtig, nur weil man es sich leisten kann. Doch ist Tourismus nichts anderes als ein Devisenverkehr, bei dem Geld persönlich übergeben wird. Dabei folgt auch der moderne Mensch Traumpfaden, also jenen Songlines in seinem Kopf, die ihm Legenden und Geschichten in Reisemagazinen und Hotelprospekten nahe gebracht haben. Wie heißt es in einem Film von Agnès Varda: „Wer in seinem Zimmer zu reisen versteht, vermeidet Katastrophen.“

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