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Der Schriftsteller Norbert Scheuer. Er wurde 1951 in Prüm, Eifel geboren.

© Elvira Scheuer

Norbert Scheuers Roman "Mutabor": Im Zeichen der Flut

Vom Zauber, sich mit der Sprache verwandeln zu können: Norbert Scheuer hat mit "Mutabor" seinen schönsten und rätselhaftesten Roman geschrieben.

Als es im vergangenen Jahr zu der Flutkatastrophe in Deutschland kam, gehörte Kall in der Eifel zu den am schwersten betroffenen Gemeinden; jenes Kall, das der hier im Ortsteil Keldenich ansässige Schriftsteller Norbert Scheuer zu einem fantastischen literarischen Ort gemacht hat.

Dabei hatte er sich jüngst gar als Prophet erwiesen. In seinem 2017 veröffentlichten Roman „Am Grund des Universums“ bricht ein Staudamm und Kall wird von „einer braunen Flutwelle“ überschwemmt.

Im Grunde ist „Mutabor“, Scheuers neuer, dieser Tage erscheinender Roman (C.H. Beck Verlag, 192 S., 22 €) die Fortschreibung von „Am Grund des Universums“, eine Reaktion auf die reale Flut. Doch mehr noch wirkt dieser Roman wie der zweite Teil eines Diptychons, wie ein Seiten- und Gegenstück.

Die „Grauköpfe“, der Erzähl-Chor aus Kall, zu dem der 70 Jahre alte Scheuer selbstredend auch gehört, sitzen also in „Mutabor“ wie stets in der Caféteria des Supermarkts direkt an den Bahngleisen und kennen alle Geschichten und Begebenheiten aus Kall und Umgebung.

Scheuer vermischt Zeiten und Räume, Wirklichkeit und Fiktion

Sie haben ihre neuen, von der Versicherung bezahlten Autos im Blick, genauso das Kommen und Gehen auf dem Gelände des renovierten Supermarkts, und sie reden über das, was passiert ist: „Die Schuld an ihren Verlusten, an den zahlreichen Ertrunkenen, den vernichteten Existenzen, den Zerstörungen, kurzum am Niedergang Kall und des Urftlandes geben sie einzig und allein Caspary und Raimund Molitor, darin sind sie sich ausnahmsweise alle einig.“

Caspary und Raimund Molitor sind Figuren aus „Am Grund des Universums“, Bauunternehmer der eine, stellvertretender Direktor der örtlichen Bank der andere. Sie wollten Kall zu einem Touristenparadies machen, mit einem vergrößerten Stausee und einem Ferienpark, und dann brach eben der Staudamm. „Mutabor“ spielt zu der Zeit des 2017er-Romans und danach, in der Gegenwart, und wieder einmal vermischt Norbert Scheuer Wirklichkeit und Fiktion, Zeiten und Räume.

Die Hauptfiguren sind wie in „Am Grund des Universums“ die Mutter von Raimund Molitor, Sophia Molitor, und vor allem, als Ich-Erzählerin, die junge Nina Plission, die jetzt allerdings aus gutem Grund keinen Nachnamen mehr hat.
Nina ist elternlos aufgewachsen, ihre Mutter hat sich früh aus dem Staub gemacht und sie bei den Großeltern zurückgelassen. Sie trägt Zeitungen aus, kümmert sich um den schwer verletzt aus Afghanistan zurückgekehrten Paul Arimond, jobbt in der Kneipe von Evros und leidet unter epileptischen Anfällen, überdies an einer visuellen Agnosie, einer Alexie: Sie kann zwar schreiben, aber sie kann nicht lesen, was sie geschrieben hat.

Als Kind hat sie Hefte „mit seltsamen, kaum entzifferbaren Zeichen“ gefüllt, und Scheuer hat von ihr, als passionierter Grenzgänger zwischen Wirklichkeit und Fiktion, „ihre Geschichten mitsamt den rätselhaften Schulheften anvertraut“ bekommen, wie er am Ende zu verraten meint.

Seitenstück von "Am Grund des Universums"

Im Zentrum dieser Geschichten, die Scheuer jetzt erzählt, steht die Suche Ninas nach ihrer eigentlichen Identität, nach der ihrer Mutter. Denn Ruth Plission, die einstige Schülerin von Sophia Molitor, scheint gar nicht ihre Mutter zu sein. Immerhin kann sich Nina an ihre Großeltern erinnern: an den Großvater, den sie mochte und der mit ihr in seinem alten, hellblauen Opel Kapitän immer nach Byzanz fahren wollte.

An die Großmutter, die sie nicht mochte, weil sie von dieser geschlagen wurde. Die Großmutter ist für Nina die „Graie“, eine der drei Grauhaarigen und Einzahnigen aus der griechischen Mythologie, die Scheuers Roman entscheidend strukturiert, mehr noch als die vielen literarischen Spuren und Verweise von Annie Ernaux über Virginia Woolf bis zu Sappho. (Orlando heißt die Schildkröte von Nina)

Der Großvater hat seiner Enkelin häufig von den griechischen Mythen erzählt. Aber insbesondere Evros ist es, der sich diese Mythen ausgerechnet auf Bierdeckeln notiert, in Form von Prosagedichten. Sie laufen in „Mutabor“ als zweiter Strang mit, in bewährter Manier illustriert von Scheuers Sohn Erasmus.

Sie würden dabei helfen, glaubt Scheuer in seiner Danksagung, „das in sich verschachtelte Geschehen der Geschichten als das Resultat eines ganz eigenwilligen Denkens zu verstehen.“ Nun denn...

Es ist tatsächlich nicht ganz leicht, den Geschichten dieses Romans zu folgen, Ninas verschlungenem Denken. Oft überlagern sich Traumsequenzen und reales Geschehen, die junge Frau schwebt förmlich durch diesen Roman. Pferde und Störche bevölkern ihre Träume, die sich mit denen von Sophia Molitor zu mischen scheinen.

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Sophia fantasiert sich oft ihren lange verstorbenen Ehemann herbei, der wiederum mit Ninas Mutter womöglich ein Verhältnis hatte – und der Nina als Storch verwandelt mit sich fortgetragen haben könnte. Und dann ist auch noch die Rede davon, dass alle aus der Familie der Arimonds, der Stammfamilie des Romanwerks von Norbert Scheuer, „ein Muttermal aufweisen, das einer fliegenden Biene gleiche“.

Auch Nina hat ein solches Bienenmal. Man erfährt das bei den brutalsten Szenen dieses Romans. Erst wird sie von ihrer Betreuerin missbraucht, „sie berührt mich zwischen den Beinen und küsst meine Bienen“. Später vergewaltigen sie mehrere Jungs, „und ich spüre, wie seine Zunge an meinem Muttermal leckt, wie er in meine Biene beißt.“

Man weiß dann, warum Paul Arimond, in den Nina sich verliebt hat, nach einer Liebesnacht spurlos verschwindet – sie ist eine Arimond, sie könnte seine Schwester sein. Paul wurde wie sie von der Mutter mir nichts, dir nichts verlassen, so wie es Gregor erging, Ninas verschollenem Bruder in „Am Grund des Universums“.

"Von Kall war kaum mehr etwas zu sehen"

„Mutabor“ heißt der Roman nicht von ungefähr. Mutabor ist von dem lateinischen Verb mutare, verwandeln, die erste Person Singular des Futurs, Passiv: „Ich werde verwandelt werden“. Und in Wilhelm Hauffs Märchen „Kalif Storch“ rufen die Störche der Sonne „Mutabor“ zu, „und im Nu waren sie verwandelt.“

Verwandlungen sind das große Thema dieses Romans, der Scheuers schönster, poetischster und wunderlichster, aber auch schwierigster und passagenweise undurchdringlichster geworden ist.

Man hat den Eindruck, nach Hause zu kommen, in den so bekannten Erzählkosmos von Scheuer mit seinen vertrauten Figuren, von den Grauköpfen bis zu Vincentini, von Nina, Evros und Paul Arimond bis zu der Molitor-Sippe. Und doch trügt dieser Eindruck. Scheuers Charaktere und Persönlichkeiten machen stets Wandlungen durch, und wenn diese Verwandlungen in ihren Träumen stattfinden.

Die Rätsel von Ninas Herkunft und der Umtriebe von Sophias Mann Eugen werden nur näherungsweise gelöst. Der Grund des Universums ist in „Mutabor“ schwer ins Wanken gekommen. Nina konstatiert schließlich, dass Worte „der einzige Zauber“ sind, „mit dem ich mich verwandeln kann.“

Und die Flut? Sie kommt, sie muss kommen: „Von Kall und den vielen Dörfern des Urftlandes war kaum mehr etwas zu sehen.“ Doch bei aller Unordnung, allem Unheil, das sie hinterlässt: some things never change in Kall. Dazu gehört die unstillbare Sehnsucht vieler Scheuer-Figuren, auszubrechen, die Welt zu entdecken. Das gilt auch für Nina, weshalb das Ende dieses Romans für sie ein glückliches ist.

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