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Der Polizist Ma Zhe (Zhu Yilong) verbeißt sich über Jahre in einen abgeschlossenen Fall. 

© LIAN RAY PICTURES

„Only the River Flows” im Kino: Schnittmeister der eigenen Wahrheit 

Der Neo-Noir-Krimi „Only the River Flows” von Shujun Wei entwirft ein atmosphärisch dichtes Porträt von China in den 1990er Jahren. 

Es regnet in der chinesischen Provinz. Ein Schwarm von Ermittler:innen untersucht einen Tatort unten am Fluss. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzen durch das Dunkel. Eine ältere Frau, von allen nur „Oma vier” genannt, ist ermordet worden. Bald findet sich ein Verdächtiger, ihr geistig beeinträchtigter Adoptivsohn (Kang Chunlei). Der Polizeichef (Hou Tianlai) jubelt schon, wie schnell der Fall abgeschlossen werden kann. Eine Ehre für das Kollektiv! Doch Inspektor Ma Zhe (Zhu Yilong) kommt das alles merkwürdig vor. Er ermittelt weiter und stößt auf immer neue Ungereimtheiten. 

Der wortkarge Polizist, die sonderbaren Nebenfiguren, die ewige Dämmerung – alles an „Only the River Flows” schmeckt nach Neo-Noir. Kameramann Zhiyuan Chengma findet dafür angemessene Bilder: auf Zelluloid gedreht, grobkörnig, leicht verwaschen, als würden sie aus den Neunzigern stammen. Die Dächer des Dorfes, in dem „Oma vier” gelebt hat, schmiegen sich eng aneinander. Der Fluss streckt sich in Blau- und Grautönen bis zum Staudamm am Horizont. Erst spielen Reflexionen auf der Wasseroberfläche, dann hüpfen wieder die Regentropfen. 

Die Handlung ist 1995 angesiedelt, vier Jahre nachdem Regisseur Shujun Wei geboren wurde. Doch auch ohne Zeitzeugenschaft beweist er ein Gespür dafür, die Ära filmisch heraufzubeschwören. Die chinesische Führung trieb damals die Öffnung der Planwirtschaft voran. Viele Staatsbetriebe wurden privatisiert oder geschlossen. Gerade in den ländlichen Gegenden führte das zu gewaltigen sozialen Umbrüchen. Das sieht man in „Only the River Flows”, ganze Häuserblocks werden dem Erdboden gleichgemacht.  

Auch das Kino des Ortes muss schließen, es kommen nicht mehr genügend Gäste. Für die Polizei ein Glücksfall, sie braucht dringend mehr Platz. Also führen die Polizisten die Verhöre im Vorführraum durch, direkt neben dem ausgedienten Projektor. Für den Wahrheitsgehalt der Aussagen verheißt das nichts Gutes. 

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Weis Film steckt voller durchschimmernder Bedeutungsebenen, sie verleihen der Krimihandlung einen Resonanzraum. Vieles deutet der Regisseur an, Gewaltdarstellungen lässt er weitgehend aus. Als wieder ein Mord am Fluss geschieht, sieht man nur die Vögel aus den Baumkronen stieben. Einen Reißer hat Wei nicht im Sinn. Wie der Fluss fließt die Handlung ruhig dahin, erst stringent, dann verästelt sie, strudelt im Kreis, versickert. 

Beweisführung mit Schweinehälften

Die Ermittlungsarbeit ist noch durch und durch analog. Ma Zhes Kolleg:innen finden geheime Botschaften auf einer Musikkassette. Den Einfallswinkel der Tatwaffe erproben sie an Schweinehälften, die sie im Saal des Kinos aufhängen. Der Regisseur durchsetzt seinen Film, der auf einem Roman von Yu Hua basiert, mit skurrilem Humor. Da nötigt der Chef dem Inspektor nach den Besprechungen immer noch eine Runde Pingpong ab. 

Neben dem Mordfall erzählt Wei vom Privatleben des Ermittlers. Beide Ebenen lassen die Figur, die Zhu Yilong zurückhaltend, aber präzise spielt, Kontur gewinnen. Seine Frau (Chloe Maayan) erwartet ein Baby, doch er scheint zunehmend an der Welt zu verzweifeln. Dafür verbeißt er sich mit Inbrunst in den Ermittlungen, ohne einer befriedigenden Lösung näherzukommen. Ma Zhes Träume durchdringen die Wirklichkeit. Er sieht den Fall als Film auf einer Leinwand; am Ufer des Flusses brennt eine aufgestellte Kamera.  

Regisseur Shujun Wei spielt mit dem Symbolgehalt der Bilder. Genauso wie der Fall, von dem er erzählt, bewahren sie ein Geheimnis. Einen magischen Rest, der sich dagegen stemmt, ausgedeutet zu werden. Die Ermittlungsarbeit wird in „Only the River Flows” zum Schöpfungsakt einer Erzählung, der Inspektor in seinem Kino-Hauptquartier zum Schnittmeister der Wahrheit. Glücklich macht ihn diese Erkenntnis nicht. Dann setzt wieder der Regen ein. 

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