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Kultur: Paavo Järvi: Irdische Längen - Der designierte Chef des Cincinnati Symphony Orchestra bei Berlins Philharmonikern

Benjamin Britten bewunderte bei Dmitri Schostakowitsch die Ausdruckstiefe seiner "sozialistisch-realistisch" gebrochenen Modernität. Arvo Pärt entdeckte Britten kurz vor dessen Tod für sich, die "seltene Reinheit" seiner Musik.

Benjamin Britten bewunderte bei Dmitri Schostakowitsch die Ausdruckstiefe seiner "sozialistisch-realistisch" gebrochenen Modernität. Arvo Pärt entdeckte Britten kurz vor dessen Tod für sich, die "seltene Reinheit" seiner Musik. Mit dem "Volksfeind" Schostakowitsch verbindet den estnischen Komponisten das lange Leiden an kulturpolitischer Drangsalierung, vielleicht auch die Zuflucht zu innerer Emigration und radikaler Reduktion der kompositorischen Mittel. Ein Programm der vielseitigen Bezüge also, das Paavo Järvi mit dem Berliner Philharmonischen Orchester zusammengestellt hatte. Doch die Werke selbst erschienen als zu ungleichgewichtig, um dies auch klingend einzulösen.

Den stärksten Zugang erschloss sich der designierte Chef des Cincinnati Symphony Orchestra noch zum Werk seines Landsmannes Pärt: "Cantus in Memory of Benjamin Britten" markiert 1977 den Beginn der kompositorischen Flucht in die freiwillige Armut. Die Überkreuzungen einer beständig wiederholten Tonfolge schaffen einen ungeahnten Reichtum an Differenzierungen, drücken sich wie immer schwerere Steine in den leise brodelndem Untergrund.

Pure "Sommernachtstraum"Laune dagegen im Klavierkonzert D-Dur von Britten. Da prickeln die Repetitionen à la Mendelssohn mit süßen Flöten und frechen Trompeten, da schälen sich seidige Geigenmelodien heraus, und auch Solist Leif Ove Andsnes beeindruckt mit sprudelndem Dauer-Martellato und farbiger Eleganz. Das bleibt mit allzu ungenierten Anleihen auch bei Ravel und Prokoffiew leichte Schaumschlägerei, das genaue Gegenteil von Dmitri Schostakowitschs 10. Sinfonie, Trauermusik der Stalin-Zeit. Deren Wiedergabe wäre brillant zu nennen, gestochen scharf und trocken-transparent, doch nach flexibel ausgeformten, aufseufzenden Streicherlinien stellen sich auch hier die Längen ein.

Der lange Kopfsatz zerfällt in schöne Einzelheiten, weil Järvi keine überzeugende architektonische Gliederung mit stringent angepeilten Gipfelpunkten gelingt, und das flackernde Flöten-Konstrastmotiv vermittelt Walzereleganz statt atemloser Erregung. Recht harmlos auch "das Gesicht Stalins", wie Schostakowitsch das Scherzo bezeichnete, mehr Lust am virtuosen Lärm als unerträgliche Brutalität. Erst wenn das schmerzliche Tonanagramm "D- Es - C - H" in schmerzlichen und wütenden Ausbrüchen die Individualität des Komponisten gegen vordergründige Final-Heiterkeit durchsetzt, wenn mit klagenden, an den "Totenvogel" in Gustav Mahlers "Auferstehungs-Sinfonie" gemahnenden Girlanden die Stunde der unübertrefflichen philharmonischen Holzbläser schlägt, kommt wieder herzklopfende Spannung auf. Kurzer, kühler Jubel in der gut gefüllten Philharmonie.

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