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Provinzpatron De Roller (Benoît Magimel) handelt die politische Geschäfte der französischen Kolonie Tahiti im Nachtclub aus.

© Filmgalerie 451

„Pacifiction“ im Kino: Atomparanoia im Postkartenidyll

Der spanische Regisseur Albert Serra verbindet in dem hypnotischen „Pacifiction“ eine Südsee-Fantasie mit einer politischen Verschwörung. Ein Kino-Highlight des Jahres.

Von Andreas Busche

Wenn die Sonne als orangerotes Feuer im Meer versinkt, erwacht der Nachtclub Paradise Nights zum Leben. Auf der Bühne wird Südsee-Kitsch geboten, männliche Bedienungen servieren nur mit weißen Feinripp-Unterhosen bekleidet exotische Drinks. Es liegt eine unaufgeregt angesexte Stimmung in der Luft, mittendrin schlendert ein Mann im weißen Leinenanzug und mit weit geöffnetem Blumenhemd wie ein schläfriger Buddha zwischen den Gästen.

Ohne den Hochkommissar De Roller, gespielt von Benoît Magimel (in Michael Hanekes „Die Klavierspielerin“ vor zwanzig Jahren ein ranker Jüngling, heute eine in sich ruhende Erscheinung, der das gute Leben auf den Leib geschrieben ist), läuft auf der Pazifik-Insel Tahiti, eine Kolonie unter französischer Verwaltung, nichts. Der „Vertreter des Staates“, wie er sich nennt, kümmert sich um die Bühnenshow, die Wünsche der Touristen, die Einweihung des Casinos und ist Ansprechpartner für die indigene Bevölkerung mit ihren Traditionen. (Einmal begibt er sich zum Wellenreiten auch auf Jet-Skis.) Geo- und Lokalpolitik werden im Hinterzimmer des Paradise Nights ausgehandelt.

Thriller mit tropikalem Ennui

„Pacifiction“ ist ein äußerst treffender Titel für diese Südsee-Fantasie des spanischen Regisseurs Albert Serra, die sich mit tropikalischem Ennui auf einen Thriller-Plot zubewegt, der eigentlich keiner sein möchte. Man könnte Serra als den zugewandten Verweigerer im europäischen Arthousekino bezeichnen. In seinem historischen Drama „Der Tod von Ludwig XIV.“ sieht man dem maladen Monarchen (Jean-Pierre Léaud) zweieinhalb Stunden lang beim Dahinsiechen zu; an dem nicht-jugendfreien „Liberté“ über den zügellosen Adel im vorrevolutionären Frankreich (einer Weiterentwicklung seiner Produktion an der  Berliner Volksbühne) schieden sich zuletzt die Geister.

„Pacifiction“ ist, wenn man so will, Serras Publikumsfilm. Eine Postkartenproduktion, die unverhohlen noch den allerletzten Schauwert aus seinen paradiesischen Locations herausholt (und dafür auch schon mal die Handlung aussetzt); gleichzeitig aber mit schierer Geduld – 163 tranceähnliche Minuten – fast unmerklich ein rätselhaftes Bedrohungsszenario entwirft.

Atomtests im Pazifik

Auf der Insel herrscht Unruhe. Gerüchte kursieren, dass die französische Regierung zwanzig Jahre nach den Atomtests im Mururoa-Atoll ein neues Zentrum für Nuklearexperimente im Pazifik zu errichten plant. De Roller sieht sein kleines Reich bedroht von Kräften, die außerhalb seiner Machtbefugnisse liegen. Der arrogante Mahati (Matahi Pambrun) übernimmt die Interessenvertretung der Einheimischen, die einen Alleingang der Regierung notfalls mit Gewalt beantworten wollen.

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Ein mysteriöser General (Marc Susini), der sich lieber den Annehmlichkeiten der Insel widmet – sowie der schönen Club-Angestellten Shannah – erhöht eher den Dreh ins Absurde, als die Paranoia noch zusätzlich anzuheizen. Shannah, De Rollers Vertraute und die gute Seele des Paradise Nights, wird von der trans Darstellerin Pahoa Mahagafanau gespielt. In der polynesischen Gesellschaft, die mit Genderkonstruktionen offener umgeht, ist sie eine mahu.

Zwischen Traum und Deliruum

Faszinierenderweise lässt sich „Pacifiction“ durch die äußeren Konflikte aber nie aus der Ruhe bringen; nicht mal, als De Roller vor der Küste ein Objekt erspäht, das möglicherweise ein U-Boot sein könnte. Politische Implikationen bleiben in „Pacifiction“ ein Hintergrundrauschen, das das Publikum sanft einlullt. Auch die Dialoge, meist mit tonlosen, gedämpften Stimmen gesprochen, taugen eher für eine ASMR-Behandlung, Serra versteht es, alle Sinne zu aktivieren, ohne dabei den Ruhepuls zu erhöhen.

Ziemlich deutlich – so vage Serra seinen Verschwörungsplot auch hält – fungiert die Kolonie in „Pacifiction“ als Projektionsfläche für die verblasste Größe der französischen Republik; das Inselparadies als Spielfläche für Geostrategen. Motive von Joseph Conrad schieben sich in die Geschichte, aber auch transzendente Momente aus dem Meditationskino Apichatpong Weerasethakuls. Die großen Gedanken im Film, zurückreichend bis zu den Errungenschaften der Revolution, entbehren als pompöser Machtgestus nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Magimel ist in der Rolle des Provinzpatrons auch deshalb so großartig, weil er sich nie zum Chargentum hinreißen lässt.

Je tiefer „Pacifiction“ von einer konventionellen Handlung in einen Bewusstseinszustand zwischen Traum und Deliruum hinübergleitet, desto irrelevanter werden Genrekategorien für Serras Geschichte. Die Verschwörung ist nur eine von vielen Möglichkeiten – obwohl das Paranoia-Kino Marke Hollywood uns etwas anderes gelehrt hat. Die größten Schatten über dem Paradies, von der Sonne unerbittlich überstrahlt, wirft der französische Hausherr, den Magimel in seiner seligen Ahnungslosigkeit so eindrucksvoll verkörpert.

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