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Wie du mir, so ich Tier. Patrycia Ziolkowska und Philipp Hochmair. Foto: dpa

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Kultur: Partnertausch und Rollenpuzzle

Wir nehmen Kontakt zur Klassik auf: Nicolas Stemann spielt bei den Salzburger Festspielen mit Goethes „Faust I + II“ – und mit noch vielen ganz anderen Typen und Teilen

Wo das Theater ins Leben hineinreicht, wo es einem buchstäblich in alle Glieder fährt, da gewinnt und verliert es eine Dimension. Da ist es keine Kunst mehr, sondern Nicht-Kunst – und also Leben? Ist Nicht-Kunst immer schon Leben, das Leben, ist Nicht-Kunst nicht eher der Tod oder irgendein unheilvoller Zustand dazwischen? Und warum sollte man eigentlich ins Theater gehen, wenn dort nur das vorzufinden ist, was auch gewesen wäre, wenn man nicht ins Theater gegangen wäre – nämlich Tod, Leben, keine Kunst? Warum gehen wir überhaupt ins Theater?

Nicht dass Nicolas Stemanns „Faust I + II“-Marathon auf der Pernerinsel in Hallein, eine Salzburger Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg, diese gute alte Hybris gezielt diskutieren wollte. Der deliröse Zustand jedoch, in dem man gegen halb zwei Uhr morgens nach siebeneinviertel Stunden wieder von dannen wankt, bringt Fragen wie diese unweigerlich mit sich. Das war bei Luk Percevals „Schlachten!“ 1999 am selben Ort nicht anders, das war im Grunde noch nie anders, wenn das Theater entschlossen über die Ufer trat, schon bei Peter Steins sagenumwobener „Orestie“ an der Schaubühne nicht und bei seinem 22-stündigen „Faust“-Projekt für die Expo in Hannover erst recht nicht (alle 12110 Verse, garantiert ungekürzt). Irgendwie muss man das eigene Durchhaltevermögen ja vor sich und der Welt rechtfertigen.

Und irgendwann sind schmerzende Steißbeine und künstlerische Visionen einfach nicht mehr voneinander zu trennen – und ein erleichterter Applaus nicht groß von einem begeisterten. Auf der Pernerinsel waren die Begeisterten trotzdem in der Überzahl und das zu Recht: Denn dieser „Faust“ ist ehrlich. In seinem Aufwand wie in seiner Ästhetik (Bühne: Thomas Dreißigacker, mit Stemann zusammen), die erwartungsgemäß kaum mehr sagt als „Wir spielen jetzt mal und wissen auch nicht so genau, was dabei herauskommt“. Einzig dass Teil I karger ausfallen würde und Teil II bunter, spielerischer, freier, war früh klar. Und dass der Text als Text zu behandeln sei und nicht als Hostie, und dass die Schauspieler den Mut aufbringen müssten, alles Einschlägige, Deutschstundentümliche und Geflügelte über die Lippen zu bringen, ohne bloß zynisch zu zitieren oder sich schreiend auf die Schenkel zu schlagen. Herrlich, wie Sebastian Rudolph das „Ach“ in „Habe nun, ach“ nur so weggrummelt. Ein Ächzen, kein Artikulieren, kein Griff an die wächserne Studierstubenstirn.

Bei Stemann gibt es Striche, vor allem in der Tragödie zweiter Teil, wenn es hinaus geht ins Mythische, zu Helena, in die kaiserliche Pfalz und vor den Palast des Menelas. Und immer, wenn es wieder einen Strich gibt, steigt die wunderbar zähe, zarte Barbara Nüsse auf eine Leiter und malt mit einem dicken Pinsel einen dicken weißen Strich auf die hohen Stellwände rechts und links der Spielfläche. Am Ende sieht das aus wie eine ISBN-Nummer: die vollständige Warenprüfziffer eines deutschen Menschheitsgedichts, nein, des deutschen Menschheitsgedichts.

Was ist es uns wert, wie lautet sein Beitrag zur Debatte um die Post-Post-Dramatik? „Sagt, was ihr wohl in deutschen Landen/ Von unsrer Unternehmung hofft?“, fragt bei Goethe der Direktor im „Vorspiel auf dem Theater“. Das ist für Stemann keine rhetorische Frage: „Wie machen wir's, dass alles frisch und neu/ Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“

Eine Antwort, die augenscheinlichste, liegt darin, dass die Schauspieler nicht Rollen spielen, sondern den Text. Das sieht so aus, dass Sebastian Rudolph in T-Shirt und Jeans bis zum Osterspaziergang alles allein bestreitet, Faust ist und Wagner und, mit rot blinkenden Plastikteufelshörnchen, Mephisto. Der Darsteller als Stimmenimitator, als Goethens Pfingstwunder: Grandios, wie Rudolph fistelt, winselt und greint oder als Gottvater im „Prolog im Himmel“ zahnlos heiße Luft hervorstößt, Minetti hätte das nicht besser gemacht. Als nahezu einziges Requisit dient Rudolph ein Reclam-Heft, das, jaja, mehrfach gefleddert und wieder zusammengepappt wird, wie das eben so ist mit unserer Klassikerpflege. Einen Tisch, einen Stuhl, ein paar Äxte und Benzinkanister von der Seite hereingewuchtet, fertig ist die faustische Wut – und der Teufel, das Böse, die Lust kann kommen. Und biegt auch schon um die Ecke, in Gestalt des Kraftkerls Philipp Hochmair, der viel Mephisto spricht, manchmal aber auch Faust oder Gretchen und der in Sachen Post-Dramatik im zweiten Teil ein göttliches Solo hat: Goethe als Mümmelgreis, mit Rasputin-Bart und Freudschem Pelzkragen („Wissen Sie überhaupt, was das ist, Post-Dramatik? Wir haben damals die vierte Wand eingerissen, echte Schauspieler mit Videos gemischt!“)

Bei allem Klamauk, der später erst recht die Oberhand gewinnt, und trotz der sehr buntscheckigen Musik (von Schubert bis Disco, von „Befiehl du deine Wege“ bis „Morning has broken“), gelingt Nicolas Stemann doch immer wieder ein erstaunlich ruhiger, besonnener Ernst. Selbst das Läppische, hier wird’s Ereignis. Wenn Rudolph den Osterspaziergang erstens hinter einem buschigen Ostersträußchen vorträgt und zweitens auf Hamburgisch oder wenn Patrycia Ziolkowska als Marthe im Duett mit Gretchen über die Schmuckschatulle ins breiteste erotischste Kölsch ausbricht, dann heißt das nichts anderes als: Wir wollen verstanden werden! Wir wollen uns diese Weltliteratur zu eigen machen, wollen den Kontakt nicht verlieren.

Die Lichterketten freilich, in die Ziolkowska sich in dieser Szene wickelt, sind arg an der Kitschgrenze. Wie der Grat zwischen Spiel und Nicht-Spiel, Materialüberprüfung und Identifikation überhaupt arg schmal ist. Als Zuschauer muss man aufpassen, dass einem das Inszenierte, was es auch gibt, nicht abgeschmackt vorkommt, gar verlogen. Mal knäulen sich sämtliche Rollen in einem Darsteller, wie gesagt, mal hüpfen sie wie Flöhe vom einen zum anderen. Goethe dabei auf der Fährte zu bleiben, ist nicht leicht und wird im zweiten Teil, den eh keiner richtig kennt, noch verwickelter. Allerdings erweitert Stemann hier sein Arsenal: um Schauspieler wie Barbara Nüsse, Josef Ostendorf und Birte Schnoink, um die hinreißend hässlichen Schaumstoffpuppen der Berliner Performance-Gruppe Helmi, um beachtliche textliche Freiheiten und allerlei scheppernde Show- und Revue-Elemente. Es wird launig (oft mit Stemann persönlich mittenmang, singend, moderierend). Und, huch, sogar politisch: mit Börsenkursen und Streikposten, mit einem sterbenden Schwan, der das Logo der Deutschen Bank auf der haarigen Brust trägt, und Dollar-Noten, die Goethes Konterfei zeigen. „Gegen die strukturelle Macht des Kapitals sind Beethoven und Hofmannsthal machtlos“, sagt Jean Ziegler. Das wollte man in Salzburg nicht hören, weswegen lieber Joachim Gauck festredete, recht protestantisch und über Europa.

Aber will sich dieser „Faust“ denn empören? Geht’s hier um die ökologischen und ökonomischen Katastrophen des Planeten Erde, die Goethe im vierten und fünften Akt des zweiten Teils regelrecht an die Wand malt, als ein Resultat männlichen, faustischen Strebens? Den Eindruck hat man nicht. Stemann bleibt doch lieber beim Theater und scheucht am Ende ein buntes Völkchen aus berühmten Persönlichkeiten (Eckermann! Max Reinhardt!), niedlichen Englein und schrägen Vögeln an die Rampe, die zu einem veritablen Les-Humphries-Beat den Chorus Mysticus anstimmen: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“.

Das „ewig Weibliche“ übrigens von Gretchen bis Helena trägt den ganzen Abend Glitzerkleid und High-Heels (Kostüme: Marysol del Castillo). Fast hätte man das Stemann übel genommen, da mischt sich in letzter Sekunde ein Techniker mit einem Gebläse unter die Menge. Weiße Plastiktütchen fliegen auf, flattern wie Heiligenscheine über den Schaumstoff-Englein. „Meine Seele, meine Seele“, skandieren helle Frauenstimmen, „ich hab sie!“ Das also ist sie, die Rettung, die Erlösung von allem Übel. Und wem:s am Glauben fehlt, ist selber schuld.

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