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Peter Stamm: Dosenravioli im Hotel

Peter Stamm ist er ein Meister der Kurzgeschichte: In "Seerücken" erzählt er Geschichten vom kleinen Scheitern.

Mit der jungen Frau stimmt was nicht. Und auch nicht mit dem Hotel in den Bergen, einem riesigen Jugendstilgebäude, in dem der Ich-Erzähler in Peter Stamms Erzählung „Sommergäste“ absteigt. Ana, so heißt die junge Frau, scheint das Hotel allein zu führen, barfuß, in Kellnerinnen-Outfit zwar, aber mehr als Ravioli und Thunfisch aus der Dose hat sie zum Abendessen nicht anzubieten. Die Saison ist vorbei, und das Hotel strahlt zudem eine fast unheimliche Verlassenheit aus, die dem Erzähler, der ein kleines, karg möbliertes Zimmer bezieht, aber gelegen kommt: Er ist Slawist und will hier fern vom Universitätstrubel eine Arbeit über Gorkis Stück „Sommergäste“ fertigstellen.

Man fühlt sich in dieser ersten Erzählung von Peter Stamms neuem Buch „Seerücken“ nicht nur an Stephen Kings „Shining“ und insbesondere an die Verfilmung mit Jack Nicholson erinnert. Sondern gleich auch an die latent unheilvolle, aber das Unheil nie ihren Lauf lassende Atmosphäre von Stamms letzten Roman „Sieben Jahre“. Darin verliebt sich ein aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammender Architekt in eine sehr religiöse, unansehnliche polnische Putzfrau und setzt dabei sein sowieso fragiles Eheglück aufs Spiel. Auch in „Sommergäste“ geht alles seinen Gang; die Merkwürdigkeiten häufen sich zwar und Ana und ihr Sommergast haben einmal gar Sex miteinander. Aber erst als Ana spurlos verschwindet, kommt Licht ins Dunkel, wird klar, was es mit der jungen Frau und dem Hotel auf sich hat.

So wie mit Ana verhält es sich mit vielen Figuren in diesen zehn Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm: Sie sind Durchschnittsmenschen, unauffällig, bieder; wirken aber angezählt, versuchen mühsam, ihren Alltag zu bewältigen. Mitunter dekompensieren sie. Einfach so oder weil plötzlich etwas aus der Spur gerät. Da ist also Anja, die nach der Trennung von ihrem Mann Marco mit ihren zwei Kindern in einer bescheidenen, gesichtslosen Siedlung in der Nähe eines Gewerbegebiets lebt; selbst aus einem zerrütteten Elternhaus stammend, hat sie während ihrer Schulzeit drei Jahre im Wald zugebracht, nachts, nach der Schule. Weniger der Eltern wegen, sondern weil sie es so wollte: „Man nahm den Wald nur wahr, wenn man sich in ihm befand. Gerade das machte ihn ja so besonders, dass man ihn nur dann erfasste und von ihm erfasst wurde.“

Da ist der Mann, der nicht damit zurecht kommt, dass seine Frau nach einer Hirnoperation auf der Intensivstation liegt. Er packt einen Koffer für sie, macht sich dann aber mit dem Koffer selbst aus dem Staub. Da ist die Klavierlehrerin, die glaubt, zu Höherem berufen zu sein als nur auszubilden; oder der Pfarrer, der von seiner neuen Gemeinde in einem kleinen Ort am Bodensee nicht akzeptiert wird. Spektakuläres widerfährt diesen, meist in unauffälligen Gegenden lebenden Menschen nicht; auch ihre Charaktere sind nicht die komplexesten, ihre Träume vom Leben nicht die wüstesten, unerfüllbarsten.

Es ist mehr das kleine, manchmal zunächst gar nicht erkennbare Scheitern, von dem Stamm hier erzählt, und er macht das in einer unauffälligen, unangestrengten, leicht zu erobernden Sprache, die einen sofort in jede dieser Geschichten eintauchen lässt. Vermutlich ist das der Grund, warum Stamm manchmal, so wie bei den halbjährlich stattfindenden Preisverleihungen in Leipzig oder Frankfurt, zwar gewogen, nach seinen Nominierungen für einen Preis aber für zu leicht befunden wird. So wie kürzlich in Leipzig, wo nicht er, sondern der junge Clemens J. Setz für einen vermeintlich ästhetisch mutigeren, kunstvolleren Erzählband ausgezeichnet wurde. Stamm beherrscht sein Metier, mehr noch als Romancier ist er ein Meister der Kurzgeschichte. Die Anstrengungslosigkeit ist seine große Kunst, das Schwere nicht ganz so schwer und bemüht zu erzählen.

Vielleicht beherrscht Stamm, das wäre die einzige Einschränkung, das Kurzgeschichtenschreiben fast zu gut, schimmert da manchmal ein wenig Routine durch. Zumindest ertappt man sich dabei, gerade wenn man diese Erzählungen am Stück liest, nicht mehr jeder Beschädigung der Figuren wirklich auf den Grund kommen zu wollen, weil sich immer wieder ähnliche Lebensmuster erkennen lassen. Vor allem lauert man auf die Pointe am Schluss, auf eine Auflösung der Geschichte, die Stamm zuverlässig liefert.

Und doch muss man immer wieder schwer schlucken, überraschen diese Enden, so folgerichtig sie sind. Wenn in „Der Lauf der Dinge“ das eher mürrisch seinen Urlaub verbringende Paar plötzlich heftigen Sex hat, nachdem es vom Tod des Nachbarkindes erfahren hat; oder wenn Anja, das einstige Waldmädchen, sich in einem Tagtraum verliert, in dem ihr ein Jäger ein Gewehr an die Brust hält und abdrückt. Dann gerät die Wirklichkeit ins Rutschen, dann zeigt sich hier die Tragik des Individuums noch einmal in seiner ganzen elendigen Pracht.

Peter Stamm: Seerücken. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011. 190 Seiten, 17,90 €.

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