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Kultur: Phantom Heimat

19 Städte, 19 Themen: Die Internationale Bauausstellung Sachsen-Anhalt sieht im Schrumpfen eine Chance. Eine Rundreise

Die Stadträte sahen keinen Ausweg mehr. Das Fabrikgelände der einstigen Junkers-Werke in Dessau wird leergeräumt. Das Areal müsse zwecks Gewerbeansiedlung „beräumt und erschlossen“ werden.

Was für eine Gewerbeansiedlung? Dessau-Roßlau, wie die Stadt seit der jüngsten Gebietsreform heißt, ist eine in jeder Hinsicht schrumpfende Stadt. Ausgerechnet hier, wo die Anfang April eröffnete Internationale Bauausstellung Sachsen-Anhalt 2010 erdacht und auf den Weg gebracht worden ist, stößt ihr Leitmotiv „Weniger ist Zukunft“ auf den Widerstand der Lokalpolitik. Mit dem Abriss zahlreicher Plattenbauten kann sie sich gerade noch abfinden, der Leerstand ist schließlich evident – und zudem teuer. Aber die heilige Kuh der Gewerbeansiedlung wird weiterhin angebetet.

Dabei erschöpft sich der „demografische Wandel“, wie die Schrumpfung beschönigend genannt wird, nicht einfach im Rückgang der Bevölkerungszahl um bereits 17 Prozent seit 1989, er schließt auch die immer schlechtere Qualifizierung der nachwachsenden Generation mit ein. Knapp zwanzig Prozent Schulabbrecher in Sachsen-Anhalt sind eine bildungspolitische Katastrophe. Wo sollen junge Leute ohne ausreichende Schulbildung Jobs finden, wenn die Ingenieure und Facharbeiter fehlen, um die Ansiedlung von Betrieben überhaupt erst zu ermöglichen? Hinzu kommt eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses: Auf 100 Männer im besten Heiratsalter kommen in kleineren Kommunen oft nur noch 80 gleichaltrige Frauen, so dass Männern neben dem Arbeitsmangel auch ein partner- und kinderloses Singledasein droht.

Solche existenziellen Probleme kann die IBA kaum lösen. Aber sie hat es sich immerhin zum Ziel gesetzt, den 19 teilnehmenden Orten bei der Festigung oder gar Neuschöpfung ihrer Identität zu helfen – man könnte es auch „Heimat“ nennen. Auch noch zwanzig Jahre nach dem Zerfall der DDR gibt es Phantomschmerzen, die auf dem Weg in die Zukunft zwicken.

Dessau macht das Dilemma deutlich. Die Stadt hat sich das IBA-Motto „Urbane Kerne – landschaftliche Zonen“ vorgenommen. Wo Leerflächen entstehen, soll Landschaft in die Stadt zurückkehren, keine aufwendigen Parkanlagen, sondern pflegeleichter Spontanbewuchs, unterbrochen durch „Claims“, 400 Quadratmeter große Felder, die von Bürgern nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden. Als Beispiel wird ein Kräutergarten in Sichtweite von Plattenbauten vorgezeigt oder ein Sonnenblumenfeld am Rand der Bahnstrecke. Die Bebauung wird zunehmend fragmentiert, Straßen werden entwidmet. Damit ist ein tabuisiertes Thema angesprochen: die Aufrechterhaltung der Infrastruktur, die doch stets als Schlüssel zur Weiterentwicklung gilt. Die Defensivstrategie der Parzellenbegrünung mildert den Anblick, nicht jedoch das Problem der sterbenden Stadt.

Ähnlich Halberstadt, das Anfang April 1945 bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt wurde. Was übrig geblieben war, verfiel zu DDR-Zeiten. Die gesamte Altstadt war 1989 zum Abriss freigegeben, und noch kurz vor der Wende wurden zwei Hektar plattgemacht. Nun heißt es „Kultivierung der Leere“: Kann aus der Leere eine individuelle Qualität entstehen? Dass das verordnete Wachstum der DDR-Industrialisierungs- und Proletarisierungspolitik die Wurzel der heutigen Missstände darstellt, wird bei der IBA kaum thematisiert, vielmehr gern als „DDR-Moderne“ sanktioniert.

So auch in der Doppelstadt Halle. Die IBA versucht, das Kunstgebilde der Chemiearbeiter-Schlafsiedlung Halle-Neustadt zu erhalten, auch wenn die einst zehntausende Beschäftigte zählenden Leuna-Werke längst verschwunden sind. So stemmten sich die IBA-Lenker gegen den Abriss dreier leerstehender Punkthochhäuser. Die grausliche BetonHochstraße, die von Neustadt quer durch die Altstadt geschlagen worden war, wurde zum Gegenstand von Projekten, „die Fragen nach dem Umgang mit den Zeugnissen der städtebaulichen Moderne stellen“. Allen Ernstes fragt die IBA: „Welchen Verlust bedeutet ihr Rückbau?“ Na, gar keinen! Denn an der wiedererweckten Altstadt lässt sich erkennen, wie man gewinnbringend auf historische Stadtstruktur und erstrangige Neubauten setzt.

Gewiss sind die Voraussetzungen zur Stadtreparatur und damit zur Konzentration auf die vor 1949 bestehende Dichte nicht überall gegeben. Eisleben, das seit 1946 den Titel Lutherstadt trägt, hat sich ganz auf sein historisches Erbe als Geburts- und Sterbeort des Reformators besonnen. Der Kupferschieferbergbau kam 1990 nach 800 Jahren zum Erliegen, die Bevölkerung sank von 31 000 um gut zwanzig Prozent und wird binnen dieses Jahrzehnts auf prognostizierte 18 000 Einwohner zurückgehen. Nun hat die Kommune ihre historischen Bauten entlang eines „Lutherweges mit zwölf Stationen“ sinnfällig erschlossen, ergänzt um wenige, exzellente Neubauten und pfiffige Installationen wie eine Hörstation namens „Ohrenweide“. Eine andere Frage ist, was die weitgehend areligiöse Bevölkerung mit solcher Identifikation als Lutherstadt anfangen kann. Viele klagen eher über den Wegfall des Bergbaus. „Wenn der letzte Bergmann gestorben ist, sind wir wieder ,das arme Mansfeld‘“, grantelt ein Einheimischer.

Zum Glück beschränkt sich die IBA nicht durchweg auf „einen weitblickenden Stadtumbau, der auf Leerstand und finanziellen Notstand antwortet“, wie sie sich vollmundig, doch inhaltsarm annonciert. Gegenbeispiel Bernburg: Es hat als sein Leitbild „Zukunft Bildung – Lernen im Zentrum“ gewählt und versucht, durch die Zusammenlegung dreier Schulen mitten im Ortskern Haupt- und Mittelschülern eine Bildungsperspektive zu öffnen, die sich nicht auf schulisches Lernen beschränkt, sondern zugleich die Berufspraxis anvisiert. Und zwar bereits ab der 5. Klasse, „um nach der 10. Klasse ausbildungsreifere Schüler entlassen zu können“, wie Angret Zahradnik betont. Die Leiterin des Sekundarschulzentrums spricht eindringlich von „Schulentwicklung als Basis von Stadtentwicklung“. Der künftige Schulverbund erstreckt sich über drei Standorte rings um die Kirche St. Aegidien, die zugleich das Bildungsziel Wertevermittlung vor Augen stellt. Zahradnik hat zudem jene Einrichtungen im Blick, die für deutsche Mittelstädte seit 150 Jahren charakteristisch sind: „Bibliothek, Museum, Theater können ohne ausgebildeten Nachwuchs nicht überleben – wie letztlich unsere gesamte Gesellschaft.“

Genau das wäre ein lohnendes Arbeitsprogramm für die IBA. Wenn dagegen Sangerhausen „für lebenswerte Stadtquartiere“ Reklame macht, verwundert angesichts solcher Gedankenarmut, wieso die Kommune zur IBA ausgewählt wurde. Unter 43 zum Mitmachen aufgeforderten Kommunen wurden schließlich nur 19 als förderwürdig befunden. Oder Merseburg, das allen Ernstes hofft, dass „junge Menschen aus kreativen Berufen, Leistungsträger und Migranten“ sich hier neben der traditionellen Industriearbeiterschaft niederlassen. Als ob es den durch die demografische Entwicklung forcierten Wandel aller sozialen Strukturen nicht gäbe, mancherorts bis hin zu deren vollständiger Auflösung.

„Durchgrünt, aufgelockert und autogerecht“ sollte die 1960 in der DDR zum Leitbild erhobene „sozialistische Stadt“ sein, ist im 875 Seiten starken IBA-Katalog nachzulesen. Die tragische Ironie der Geschichte will es, dass die schrumpfenden Städte Sachsen-Anhalts künftig durchgrünter und aufgelockerter denn je sein werden – und dank der weiterhin ungehemmten Infrastrukturpolitik der Landesregierung auch autogerechter. Die IBA 2010 ist dagegen ein Flickenteppich von Einzelmaßnahmen, manche hoffnungsvoll, manche hilflos. Mit Schrumpfung, Wegzug, Abriss sind Stadtplaner nicht vertraut, schon gar nicht angesichts widerspenstiger Bürger, die bekanntlich selten tun, was Planer von ihnen wollen – ob sie ins Umland ziehen, Großmärkte frequentieren oder sanierten Altstadtwohnungen die kalte Schulter zeigen.

Einen Fingerzeig bietet Köthen, nach eigenem Verständnis eine „beschauliche Mittelstadt“. Sie hat die Geschichte der Homöopathie, die mit Samuel Hahnemann in Köthen beginnt, als ihr Potenzial entdeckt. Köthen setzt, ganz homöopathisch, auf die in einer Krise frei werdenden Selbstheilungskräfte. Im renovierten Spitalgebäude der Barmherzigen Brüder von 1829 hat die „Europäische Bibliothek für Homöopathie“ ihren Sitz gefunden, sie übersiedelte aus Hamburg hierher. An den Brandmauern von sieben Köthener Häusern prangen Zitate aus dem „Organon der Heilkunst“. Darunter: „Was für ein Schmerz, welche Empfindung genau beschrieben, war es, der sich an dieser Stelle ereignete?“

Solchen Schmerz aufzuspüren wäre eine Aufgabe der IBA. Allein ihr Generalmotto „Weniger ist Zukunft“ stimmt allemal. Auch wenn es am Ende vor allem „weniger“ bedeuten wird, von all dem weniger, was Planer und Kommunen sich gemeinhin erträumen. Und zuletzt auch weniger von jenem Wohlstand, den die Transferleistungen aus Deutschlands Westen für trügerische zwanzig Jahre in die „neuen Länder“ gespült haben.

Sachsen-Anhalt, 19 Städte, zentrale Ausstellung im Bauhaus Dessau bis 16. Oktober. Infos unter www.iba-stadtumbau.de . Katalog im Jovis Verlag, Berlin, in Dessau 25 €, im Buchhandel 39,80 €.

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