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Philosophie: Michael Sandel klagt über die Entmachtung der Zivilgesellschaft

Vor einem Vierteljahrhundert untersuchte der Harvard-Star schon einmal „Das Unbehagen in der Demokratie“. Jetzt kommt sein visionäres Buch aktualisiert neu heraus

Mit den eigenen Leuten gehen viele härter ins Gericht als mit ihren politischen Gegnern. So auch der liberale Philosoph Michael J. Sandel. Er schreibt, Bill Clinton habe die neoliberale Politik Ronald Reagans nicht nur legitimiert, sondern sogar vorangetrieben. Und Barack Obama habe im Zuge der Finanzkrise lieber die Banken gerettet, als den bankrotten Hausbesitzern zu helfen, und auch nichts dagegen unternommen, dass sich die Manager mit dem Staatsgeld üppige Boni auszahlten.

Die Vorwürfe stehen im neu verfassten Schlusskapitel von „Das Unbehagen in der Demokratie“. Das Buch kam erstmals im Jahr 1996 heraus. Sandel beschrieb darin den Aufstieg des Finanzkapitalismus und damit zusammenhängend die fortschreitende Entmachtung der Zivilgesellschaft. Schon damals erkannte er eine tiefliegende Verunsicherung der US-Amerikaner.

Das titelgebende „Unbehagen“ rührte daher, dass sie ihren Zugriff auf die Verhältnisse schwinden sahen, die ihr Leben bestimmten. Der überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe des Buchs zufolge hat sich die Lage seither noch verschlimmert.

Schuld daran sei eine Entpolitisierung der Wirtschaft. Der Autor schlägt einen weiten Bogen in die Geschichte und beschreibt, wie sich die Ökonomie immer weiter der Kontrolle des Staates entzog. Noch unter Präsident Thomas Jefferson verpflichtete sich die Wirtschaftspolitik der moralischen Erziehung des Volks. Kennmarken wie Wachstum, Konsumsteigerung oder nationaler Wohlstand waren sekundär.

Im Zentrum stand das Ziel der „Selbstverwaltung“ („self-government“), womit eine Struktur der Gesellschaft gemeint ist, in der das Individuum befähigt wird, deren Regeln aktiv mitzugestalten. Um das zu gewährleisten, galt lange Zeit die wirtschaftliche Selbstständigkeit als wichtiges Kriterium. Nur der auf eigene Rechnung arbeitende Bürger sei in der Lage, auch politisch unabhängig zu agieren und am Aufbau der Nation mitzuarbeiten.

Firmen mit vielen Angestellten galten deswegen lange Zeit als moralisch fragwürdig, und mehr noch als Gefährder der Demokratie, weil sie Menschen unfrei hielten und an der Entwicklung von Tugenden hinderten, die für das republikanische Ideal erforderlich waren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts traten diese Bedenken nach und nach zurück, große Unternehmen entstanden, Massen an Menschen zogen in die Städte, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Die neuen Verhältnisse folgten den Regeln des Voluntarismus, der davon ausgeht, dass alle Akteure aus freien Stücken am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen. Es galt nun nicht mehr, den Menschen zu formen, sondern ihn einfach das Leben führen zu lassen, das er leben wollte. Der Staat zog sich immer weiter aus der Gesellschaft zurück, die Leerstelle füllte der Konsum. Wenn es nur darum ging, den Leuten ihre Wünsche zu erfüllen, schien es eine effiziente und folgerichtige Entscheidung zu sein, diese Aufgabe den Märkten zu überlassen.

So entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die „prozedurale Republik“ heraus. In ihr verzichtet der Staat darauf, seinen Angehörigen Vorschriften zu machen, er bleibt moralisch und religiös neutral.

Sandel hat ganz sicher nichts gegen die zahlreichen Errungenschaften dieser Ordnung und dennoch blickt er mit Wehmut auf vergangene Zeiten zurück. Er ist ein unkonventioneller Denker. Viele seiner Ansichten dürften so manchem Amerikaner geradezu sozialistisch vorkommen. Andererseits vertritt er die konservative Position, der Einzelne sei ohne staatliche Erziehung gar nicht fähig zur Freiheit. 

Die prozedurale Republik konnte ihm zufolge nicht verhindern, dass die Gesellschaft als Ganze von der Wirtschaft in Geiselhaft genommen wurde. Warum nicht? Weil die Menschen in ihr keine vollwertigen Bürger mehr sind, sondern lediglich Konsumenten. Ihnen wurde die längste Zeit erklärt, sie bräuchten keine politischen Entscheidungen treffen, es genügte schon, wenn sie sich etwas kauften.

Mit dem Ergebnis, dass sie sich nun schutzlos den höheren Mächten des Markts ausgeliefert sehen und ihre Wahlmöglichkeiten auf die Frage nach Pepsi oder Coca-Cola beschränkt sind. Es fehlen ihnen laut Sandel also die geistigen, sozialen und moralischen Ressourcen, sich gegen Lobbyisten und einer von reichen Spendern abhängigen Politik zu organisieren.

Sein Buch lädt nicht zu Optimismus ein, erst recht nicht in Aussicht der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr. Wenn er mit seiner Beschreibung der US-Gesellschaft nur halbwegs richtig liegt, wäre Donald Trumps Wiederwahl im Grunde eine logische Entscheidung. Wie sonst sollte man sich aus dieser Zwangslage befreien, als dadurch, dass man einen Mann an die Spitze wählt, dem man zutraut, das ganze Gefängnis in Brand zu stecken?

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