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Michi (Chieko Baisho) möchte der nachfolgenden Generation nicht im Weg stehen – und fasst plötzlich neuen Lebensmtu.

© masahiro miki

„Plan 75“ im Kino: Aufopfern für die japanische Nation

Chie Hayakawas zart dystopisches Drama „Plan 75“ beschreibt ein Land, das der Überalterung seiner Bevölkerung mit einem Programm zur Sterbehilfe beizukommen versucht. Ein Plädoyer für das Leben.

Unscharfe, nahezu abstrakte Bilder zu trügerisch beruhigenden Klavierklängen, auf dem Boden ein Tablett, ein Gehstock, ein umgekippter Rollstuhl. Im Voiceover wird ein Bekennerschreiben verlesen. Es kreist um den Überschuss an alten Menschen und die damit verbundenen Belastungen für die jüngere Generation. „Sich mit Stolz für die Nation aufzuopfern, hat für Japaner eine lange Tradition. Ich bete, dass meine mutige Tat der Auslöser sein wird für eine breite Debatte.“

Nach einer Welle an Gewalttaten an älteren Menschen, so vermelden die Nachrichten, hat die Regierung ein Gesetz namens „Plan 75“ verabschiedet. Es räumt betagten Menschen das „Recht“ auf Sterbehilfe ein.

Die dystopische Fiktion, die Chie Hayakawa in ihrem Regiedebüt entwirft, hat ihren Hintergrund in den aktuellen und zuweilen mit drastischer Kälte geführten gesellschaftlichen Debatten um den demografischen Wandel der japanischen Bevölkerung. Diese schrumpft und altert im Rekordtempo, mehr als ein Viertel ist inzwischen älter als 65 Jahre; „Kodokushi“, der einsame Tod, gilt als ein zunehmendes gesellschaftliches Problem. 

Freitodritual gegen Überalterung

Anfang des Jahres machte eine Äußerung des Yale-Professors Yusuke Narita die Runde, der das Altersproblem in Anspielung auf das Freitodritual der Samurai mit dem Vorschlag des „Massen-Seppuku“ beantwortete. In den sozialen Medien avancierte Narita (der seine Aussagen später als „Metapher“ verstanden haben wollte) umgehend zum Star. In den Sinn kommt aber auch das „Ubasute“, eine mythische Praxis, die im japanischen Kino mehrfach Verarbeitung fand. Die historisch nicht belegbare Tradition sah vor, in schweren Zeiten pflegebedürftige Menschen auf einem Berg zum Sterben auszusetzen.

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In „Plan 75“ zeigt sich das staatlich geführte Euthanasieprogramm mit dem Gesicht selbstloser Hilfsbereitschaft. Der Service vereinigt Aspekte von Care-Arbeit, Nachbarschaftshilfe, Wellness und Seelsorge, ein vorab ausgezahlter Bonus kann zur freien Verfügung genutzt werden. Das „Platinum“-Modell hat außerdem Leistungen wie Sauna, Massagen und ein Gedenkfoto im Angebot.

Eher lose verbindet Hayakawa fünf Figuren, die auf verschiedene Weise mit dem Programm zu tun haben. Die alleinlebende 78-jährige Michi (Chieko Baisho als resiliente Instanz des Films) hat Job und Wohnung verloren, als sie sich zur Teilnahme entscheidet. In ihren letzten Tagen wird die junge Telefonistin Yoko, die ihr als persönliche Betreuerin zugewiesen wurde, zur einzigen Vertrauten.

Die Telefonistin Yoko (Yumi Kawai) ist die einzige Verbündete ihrer „Kundin“ Michi.
Die Telefonistin Yoko (Yumi Kawai) ist die einzige Verbündete ihrer „Kundin“ Michi.

© masahiro miki

Auch zwischen Hiromu, der als Berater im Sterbehilfeprogramm tätig ist, und seinem Onkel, der nach zwanzig Jahren plötzlich vor ihm sitzt, kommt es zu einer Annäherung, die im bürokratischen Prozess nicht vorgesehen ist. Maria, eine philippinische Pflegerin, bereitet bei Plan 75 die Toten für die Einäscherung vor, der Dienst wird von einer Firma für die Entsorgung von Industrieabfällen übernommen.

Leise Dystopie, frei von Effekten

Die Verbindungen, die zwischen den Figuren entstehen, sind zart und mit dünnem Faden gesponnen. „Plan 75“ ist eine leise Dystopie, frei von Effekten und erkennbar futuristischen Zeichen. Adressiert wird eine Vielzahl an Themen, von der Einsamkeit im Alter über das Sozialsystem, das aus Scham oftmals nicht in Anspruch genommen wird, bis hin zu einer durchkapitalisierten Gesellschaft, die ein Menschenleben nur in Kosten und Nutzen berechnet.

Wenn Maria den Verstorbenen Wertsachen abnimmt und die Hinterlassenschaften in Kisten sortiert, werden aber auch düstere Assoziationen geweckt. Die Atmosphäre ist dennoch überwiegend schwebend, warm und von respektvoller Distanz getragen. Einmal fällt Michis Blick auf eine Gruppe spielender Kinder, ein kleines Mädchen winkt ihr zu, sie winkt zurück, warmes Abendlicht fällt auf die Gesichter. „Plan 75“ ist ein Film der Berührungen und kleinen, behutsamen Gesten.

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